Diskussion mit einem Amnesty Mitglied
Das Amnesty-Aktionsnetz Heilberufe rief Anfang des Jahres 2016 über eine eigene Website zu einer Materialrecherche „Menschenrechte in der Psychiatrie“ auf, siehe hier bei archive.org.
Daraus ergab sich die folgende Korrespondenz (in chronologischer Reihenfolge):
Betreff: Materialrecherche „Menschenrechte in der Psychiatrie“
Datum: Sun, 24 Apr 2016 10:54:42 +0200
Von: rene talbot
An: Amnesty-heilberufe.de
Sehr geehrte Damen und Herren bei Amnesty International,
Das Amnesty-Aktionsnetz Heilberufe ruft öffentlich zu einer Materialrecherche „Menschenrechte in der Psychiatrie“ auf:
http://amnesty-heilberufe.de/2016/01/materialrecherche-menschenrechte-in-der-psychiatrie
Sie suchen angeblich im Moment nur wissenschaftliches Material und journalistische Berichte/Reportagen zur Wahrung der Menschenrechte in der psychiatrischen Gesundheitsversorgung.
Ich denke, die systematische Verletzung der Menschenrechte in der psychiatrischen Gesundheitsversorgung wäre für das Amnesty-Aktionsnetz Heilberufe und AI der angemessenere Suchgegenstand. Die Wahrung müsste doch gerade für Menschenrechtsaktivisten selbstverständlich sein, so dass danach nicht explizit gesucht werden muss. Oder geht das Amnesty-Aktionsnetz Heilberufe etwa davon aus, dass es nur ganz wenige und so gut wie nicht zu findende „Inseln“ von gewahrten Menschenrechte in der Psychiatrie gibt, die mühsam gesucht werden müssten?
Dass gerade auch in den sog. „westlichen“ Ländern massivst und systematisch die Menschenrechte in der Psychiatrie verletzt werden, dafür nur mal zwei Beispiele:
- BRD: http://bpe-online.de/infopool/recht/bpe/broschuere-zwang.pdf
- USA: Den Pulitzer Preis gab es für einen Bericht über die Psychiatrie in den USA, hier die prämierte Serie:
http://www.tampabay.com/projects/2015/investigations/florida-mental-health-hospitals/
Mit freundlichen Grüßen
rene talbot
Berlin
(war mal AI Mitglied – bin resigniert ausgetreten)
P.S.: Gerade für die typische Arbeit von AI-Gruppen, die Gefangenen in anderen Ländern zu unterstützen, würden sich doch die Gefangenen in der US-Zwangspsychiatrie gut eignen!
Betreff: Aw: FW: Materialrecherche „Menschenrechte in der Psychiatrie“
Datum: Tue, 26 Apr 2016 00:44:29 +0200
Von: Michael Huppertz
An: Jacob Hildebrand , rene talbot
Hallo Herr Talbot,
Jacob Hildebrandt hat mir Ihr Mail weitergeleitet, weil ich die Recherche zum Thema „Psychiatrie und Menschenrechte“ koordiniere. Danke für die Hinweise, insbesondere auf die Situation in Florida. Es gibt zwischen ihren und unseren aktuellen Anliegen eine große Überschneidung, insofern wir solche Zustände ebenfalls recherchieren und evtl. in eine Kampagne einbeziehen wollen. Auch die Berichte aus Deutschland würde ich als Berichte von Menschenrechtsverletzungen ansehen.
Bzgl. der USA wollen wir selbst weiter recherchieren, bzgl. Deutschland nicht, weil es zu den Regeln von AI gehört, dass man nicht in dem eigenen Land recherchiert.
Der Unterschied zwischen Ihrer und meiner (und ich vermute in dem Netzwerk Heilberufe konsensfähigen) Position besteht darin, dass wir davon ausgehen, dass es sinnvoll ist von psychischen Erkrankungen zu sprechen, effektive Therapien zu entwickeln und in besonderen Situationen auch über die Betroffenen hinweg zu entscheiden, z. B. weil sie nicht in der Lage sind, ihre Situation und die therapeutischen Möglichkeiten zu erfassen. Nicht jede Zwangsmaßnahme wäre also für mich eine Menschenrechtsverletzung. Auch die Relation Wirkung/Nebenwirkung von Neuroleptika und anderer Psychopharmaka würde ich anders beurteilen. Da liegen wir wohl weit auseinander.
Ich denke, eine umfassende gute, d. h. auch nebenwirkungsarme, zwanglose, vorrangig ambulante psychiatrische und psychotherapeutische Versorgung wäre auch eine gute Perspektive für viele Länder, in denen psychisch Kranke zur Zeit nicht behandelt und mißhandelt werden. Dazu gehört aber auch eine Aufklärung über Krankheitsbilder, eine Entstigmatisierung und eine Bemächtigung des Patienten für sich zu sorgen und über die Behandlung zu entscheiden. Das alles wäre trialogisch zu gestalten.
Natürlich muss man in der Kritik an MR-Verletzungen nicht schon die Alternativen mitformulieren und man könnte sie offen lassen, aber ich fürchte, dass wir uns auch über die Definition und die Ursachen von MR-verletzungen an psychisch Kranken nicht einig sind.
Dass es um „Verletzungen“ geht, ist klar, aber ich finde man kann auch umgekehrt formulieren, dass es um die „Wahrung“ geht, denn wir schreiben die Menschrechte ja kontrafaktisch jedem Menschen zu und sorgen eben dafür, dass sie ihm erhalten bleiben.
Viele Grüße,
Michael Huppertz
Betreff: Re: FW: Materialrecherche „Menschenrechte in der Psychiatrie“
Datum: Thu, 12 May 2016 11:50:28 +0200
Von: rene talbot
An: Michael Huppertz, Jacob Hildebrand
Sehr geehrter Herr Huppertz,
Leider fallen die Überschneidungen in den Positionen zwischen AI und meiner Überzeugung nur marginal aus.
Die aktuell angestoßene Recherche von AI begrüße ich natürlich im Grundsatz, allerdings bleibe ich skeptisch, wie ernst es AI tatsächlich mit diesem Anliegen ist. Immerhin werden die Vorwürfe von Misshandlungen und Folter in deutschen Psychiatrie seit Jahrzehnten von Psychiatrie-Erfahrenen anhaltend erhoben und das Engagement zur Wahrung der Menschenrechte in diesem Bereich ist fast ausschließlich von Betroffenenorganisationen selbst geführt worden. Außerdem wurde von deren Seite in der Vergangenheit bereits mehrfach und erfolglos versucht, AI und andere Menschenrechtsorganisationen für dieses Thema zu sensibilisieren.
Die Frage nach der Wahrung der Menschenrechte bleibt von der Frage, ob und welche Auffassung man zu psychischen Krankheiten hat, unberührt, und beide dieser Aspekte sind nach meiner Auffassung völlig isoliert voneinander betrachtbar. Auch habe ich nichts gegen die Entwicklung von Therapien und Bestrebungen zur Verbesserung der Situation von Menschen mit psychischen Problemen, aber nur unter der ausnahmslosen Voraussetzung, dass diese nicht gegen den erklärten Willen eines Menschen durchgeführt werden. In diesem Zusammenhang verweise ich ausdrücklich auf die Ungleichbehandlung gegenüber somatisch erkrankten Menschen, die zu jedem Zeitpunkt das Recht haben, ärztliche Maßnahmen abzulehnen, auch wenn die zugrunde liegende Erkrankung bei Nicht-Behandlung sicher mit großen körperlichen Schäden oder sogar mit dem Tod endet. Zudem muss sich ein somatisch erkrankter Mensch, der eine lebensrettende Behandlung ablehnt, wegen seiner Entscheidung gegenüber keinem Arzt oder weiteren Dritten für seinen geistigen Zustand rechtfertigen oder muss sich deswegen auf seinen geistigen Zustand untersuchen lassen.
Ein grundlegendes Menschenrecht ist das Recht auf eine freie Meinung(säußerung). Dieses umfasst auch das Recht eines Menschen, von der Existenz psychischer Krankheiten nicht überzeugt zu sein. Auch hier ist es ausgeschlossen, dass ein Mensch sich für die Gründe seiner Meinung oder den Prozess des Zustandekommens dieser gegenüber Dritten erklären muss. Der Wert der Meinungsfreiheit liegt gerade in der Tatsache, dass diese auch und insbesondere für Überzeugungen gilt, die von Dritten als unsinnig, unlogisch, unbegründet oder unerklärlich angesehen werden.
Nach meiner ethischen Überzeugung haben Dritte nie das Recht, Gültigkeit für ihre Einschätzung über den psychischen Zustand eines Menschen zu beanspruchen, wenn dieser selbst diese Einschätzung ausdrücklich zurückweist. Dieses Recht entsteht auch nicht durch eine fachliche Qualifikation, wie etwa eine Ausbildung zum Psychiater, da das umfänglichste Wissen (und damit auch die Deutungshoheit) über die eigenen Gedanken und die eigene Persönlichkeit immer dem jeweiligen Menschen selbst vorbehalten ist. Außenstehende sind nie in der Lage, die Persönlichkeit eines Menschen in dem Maß zu erfassen, wie der Betroffene selbst. Stattdessen sind sie immer von Beobachtungen, Interpretation und dem Ausschnitt, den ein Betroffener ihnen gewährt, abhängig, und selbst dieser Einblick ist in hohem Maße für eine verzerrte Wiedergabe (beispielsweise Unter- oder Übertreibungen, Glorifizierungen oder Verharmlosungen oder bewusste Falschaussagen) anfällig, ohne dass diese Darstellungen prinzipiell für Dritte überprüfbar wären.
Folgerichtig verurteile ich daher jede Zwangsmaßnahme, da sie immer auf der grundlegenden Annahme durchgeführt wird, dass einzelne, als irrational empfundene Meinungen, Emotionen oder Handlungen eines Menschen auf eine psychische Erkrankung zurückzuführen seien. Nur so lässt sich nach meiner Auffassung die Freiheit von Meinung und Gedanken bewerkstelligen, ohne dass ein Mensch bei deren Ausformulierung und Kommunikation damit rechnen muss, als „krank“ oder „gestört“ diagnostiziert und diffamiert zu werden und basierend darauf psychiatrischer Gewalt ausgesetzt wird.
Ich lege großen Wert darauf, dass Menschen mit vermeintlichen oder tatsächlichen psychischen Erkrankungen gleichberechtigt behandelt, respektiert und geschützt werden. So gibt es auch die UN-Behindertenrechtskonvention vor und ebenso ist dies Voraussetzung für ein humanistisches Menschenbild. Dies bedeutet, dass man für „psychisch erkrankte Personen“ die selben Maßstäbe an Menschenrechtsverletzungen anlegt, wie bei Gesunden. Daher verurteile ich alle psychiatrischen Zwangsbehandlungsmaßnahmen als Folter und damit grundsätzlich als unvereinbar mit den Menschenrechten, unabhängig von deren Dauer oder der Absicht mit welcher diese Maßnahmen durchgeführt werden. Beide Aspekte wirken sich nicht auf die physischen und psychischen Schäden der Opfer aus.
Die Relativierung menschenrechtlicher Standards führt zu der absurden Situation, dass viele Menschenrechtsorganisationen – Sie selbst deuten eine solche Haltung ja ebenfalls an – sich weigern, psychiatrische Maßnahmen wie Isolationshaft, extrem restriktive Fesselungen, das Einsperren in enge Käfige, die Verabreichung von Psychopharmaka und Elektroschocks oder die Anwendung körperlicher Gewalt als Menschenrechtsverletzungen überall anzuerkennen, nur weil diese Maßnahmen erkrankte Personen betreffen und vermeintlich zu deren Nutzen und in guter Absicht geschehen. An dieser Stelle sei angemerkt, dass die Studienlage zudem eindeutig belegt, dass die überwältigende Mehrheit der zwangsbehandelten Menschen auch im Nachhinein noch jeglichen Nutzen dieser Maßnahmen für sie bestreitet.
Nach modernem Verständnis und unter Berücksichtigung des Gleichbehandlungsgrundsatzes ist es undenkbar, dass in einem anderen Kontext die Beurteilung solcher Gewaltmaßnahmen als Menschenrechtsverletzung auch nur in Zweifel gezogen würde. Würden diese Techniken in Arbeitslagern in Nordkorea, in Foltergefängnissen in Eritrea oder in Vestecken des pakistanischen Geheimdienstes angewandt, würde keine seriöse Menschenrechtsorganisation sich dazu hinreißen lassen, die Klassifikation als Menschenrechtverletzung über die Beweggründe der Täter abzuschwächen. Ich bemesse Folterhandlungen in Hinblick auf das Leiden, welches durch sie verursacht wird und schaue mehr auf die Folgen bei den Opfern und weniger auf die Motivation bei den Tätern. Vor diesem Hintergrund lehne ich einen Sonderstatus für Psychiatriegewalt klar ab.
Bei der Frage nach der Wahrung der Menschenrechte liegen wir ebenfalls weit auseinander. Nach meinem Verständnis können die Menschenrechte nie gegen den erklärten Willen eines Menschen erzwungen und mit Gewalt gegen ihn selbst durchgesetzt werden. Menschenrechte drücken eine Option und keine Pflicht auf die Wahrnehmung eines bestimmtes Rechts aus. Der Schutz vor Folter oder grausamer, erniedrigender oder unmenschlicher Behandlung ist zudem ein Menschenrecht, welches absolute Gültigkeit besitzt (jus cogens) und daher nicht gegen andere Menschenrechte abgewogen werden kann, umso mehr nicht, wenn diese Abwägung nicht durch den Betroffenen selbst, sondern durch Aussenstehende geschieht.
Zudem verbietet das Recht auf Selbstbestimmung prinzipiell eine Einmischung durch Dritte verbunden mit der oben beschriebene Anmaßung, dass dieser nicht selbst in der Lage sei, seinen Zustand zu erfassen und auf Basis der Eigenverantwortung Entscheidungen für sich zu treffen. Eine tatsächliche Wahrung der Menschenrechte kann immer nur aus Angeboten zur Hilfe bestehen, die für den Betroffenen auch die Möglichkeit beinhalten müssen, diese ablehnen zu können.
Abschließend darf ich meine eingangs erwähnte Skepsis noch einmal aufgreifen. Durch den Einfuss des „Netzwerks Heilberufe“ als interne Lobbyplattform, habe ich meine Zweifel, ob eine neutrale Betrachtung des Themas bei AI möglich ist. Ich weiss, dass dieser Umstand in der Vergangenheit bereits zu mehreren Austritten von Mitglieder bei AI geführt hat (incl. meinem eigenen) und bislang kann ich leider keine Anzeichen erkennen, dass sich an den Defiziten in Bezug auf einen Opfer-perspektivischen Umgang bei AI etwas geändert hat. Im Internet konnte ich die Anzeige zur Recherche auch nicht mehr finden. In http://amnesty-heilberufe.de/2016/01/materialrecherche-menschenrechte-in-der-psychiatrie steht nur noch: Nichts gefunden.
Wurde die Recherche eingestellt?
Mit freundlichen Grüßen
rene talbot
Betreff: Aw: Re: FW: Materialrecherche „Menschenrechte in der Psychiatrie“
Datum: Fri, 13 May 2016 10:47:19 +0200
Von: Michael Huppertz
An: rene talbot
Hallo Herr Talbot,
Sie machen es einem nicht leicht, mit Ihnen zu diskutieren, weil Sie mit schlimmen Unterstellungen arbeiten. Das betrifft v. a. den Absatz, der mit „Die Realivierung….“ beginnt und den folgenden. Meine Güte, dagegen wollen wir gerade vorgehen!
Sachlich nur zwei Kommentare:
- Sie wissen auch, dass eine wahnhafte Überzeugung in Deutschland kein legaler Grund für eine Zwangsbehandlung ist. Da muss mehr dazu kommen. Aber hätten Sie z. B. den Piloten, der seine Maschine an den Berg geflogen hat, fliegen lassen oder ihn nicht doch lieber auf Grund einer Expertenmeinung daran gehindert?
- Ihre Trennung von Körper und Geist funktioniert nicht gut. Somatisch kranke Menschen werden oft ohne ihr Einverständnis behandelt: Bewusstlose, demente, schwer geistig Behinderte, und zwar auf Grund von Expertisen. Alles Menschenrechtsverstöße? Wo ordnen Sie einen Menschen ein, der an einem Delir leidet oder sich sich in einem gefährlichen Alkohol- oder Drogenrausch befindet? Sollen seine Freunde ihn nicht daran hindern sich zu gefährden, z. B. ins Auto zu steigen, weil „Dritte nie das Recht haben, Gültigkeit…. usw.“? Viele Menschen sind dankbar, wenn man für sie gesorgt hat, wenn sie unzurechnungsfähig sind, warum auch immer, oder wenn man im Nachhinein mit diesem Argument den Schaden wieder gerade biegt, den sie angerichtet haben (Kaufverträge, Ruin von Beziehungen etc.).
Natürlich geht die Recherche weiter und es ist schrecklich, was dabei zu Tage tritt.
Viele Grüße,
Michael Huppertz
Betreff: Re: FW: P.S. zu Materialrecherche „Menschenrechte in der Psychiatrie“
Datum: Tue, 28 Jun 2016 21:04:10 +0200
Von: rene talbot
An: Michael Huppertz
Kopie (CC): Jacob Hildebrand
Hallo Herr Huppertz,
zunächst einmal möchte ich mich für die verzögerte Antwort entschuldigen, es war z. Zt. einfach zu viel zu tun.
Leider sind Sie kaum inhaltlich auf die von mir konkret angesprochenen Punkte eingegangen. Leider begründen Sie auch nicht, weshalb es sich bei den vorgebrachten Ausführungen nach ihrer Meinung um Unterstellungen handelt. So wiederum machen Sie es mir auch nicht leicht, mit Ihnen zu diskutieren. Ohne konkrete Kritik- und Argumentationsansätze kann ich daher auch nicht auf ihren Pauschalvorwurf eingehen. Ich bitte daher um nähere Erläuterungen, welche Aussagen Sie für Unterstellungen halten, dann werde ich mich gerne bemühen meine Angaben entsprechend zu belegen.
Gerne gehe ich mit gutem Beispiel voran und gehe auf Ihre Anmerkungen mit konkreten Bezug zu unserem bisherigen Diskussionsverlauf ein:
zu 1.
Eine Zwangseinweisung und -behandlung erfolgt offiziell nur bei sogenannter Fremd- oder Eigengefährdung, die in der Regel durch ein psychiatrisches Gutachten festgestellt wird. Dass solche Gutachten de facto wertlos sind, um die Gefährlichkeit von Menschen vorherzusagen, hat jüngst erst erneut eine Studie des Kriminologen Dr. Michael Alex von der Ruhruniversität Bochum belegt. Alex hat 121 Straftäter aus forensischen Psychiatrien nach ihrer Entlassung sechs Jahre lange beobachtet und deren Verhalten in Freiheit mit ihren jeweiligen Gefahrenprognosen seitens der psychiatrischen Gutachten verglichen. Bei allen Probanden handelte es sich um Personen, bei denen die psychiatrischen Gutachten von einer Entlassung abrieten, weil es angeblich konkrete Anzeichen dafür gab, dass diese in Freiheit angeblich erneut schwerste Delikte begehen würden. Diese Prognose bewahrheitete sich für genau 19 Personen, was rund 16% entspricht. Der Großteil von 84% hat diese Prognose völlig zu Unrecht erhalten und wäre noch immer in Gefangenschaft, wenn man ihr gefolgt wäre.
Dieses Beispiel zeigt anhand von wissenschaftlichen Daten und nicht an einem medienpräsenten Einzelfall, dass solche psychiatrischen Einschätzungen wissenschaftlichen Standards nicht gerecht werden und im wahrsten Wortsinn pure Küchenpsychologie sind. Ich halte daher nichts davon, jemanden auf unbestimmte Zeit, wie es in der Praxis regelmäßig geschieht, gefangen zu halten, nur weil eine, wie sie es nennen, „Expertenmeinung“ zu diesem Schluss kommt. Selbst ein Münzwurf hat mit 50% eine höhere Validität …
Wie bereits erwähnt, bleibt eine Meinung Außenstehender immer eine Spekulation, welche möglicherweise auf manche Teilgruppen mit einer relativen Wahrscheinlichkeit sogar zutrifft, dennoch ergibt sich daraus, dass alle übrigen diese Unterstellung und die daraus folgenden Repressionsmaßnahmen zu Unrecht treffen. Deshalb möchte ich ihnen gerne in Anlehnung an die Studienergebnisse von Dr. Alex die Gegenfrage stellen: Wollen Sie wirklich für jeden tatsächlich gefährlichen Menschen fünf harmlose und unschuldige Menschen in der Psychiatrie einsperren? Um abschließend noch ihre Frage zu beantworten: Nein, ich hätte ihn bei begründeten Zweifeln sicherlich nicht fliegen lassen, aber selbstverständlich hätte dafür schon gereicht, ihm die Fluglizenz zu entziehen und man hätte ihn nicht in einer Psychiatrie einsperren und zwangsbehandeln müssen.
zu 2.
Ich bitte Sie, meine Aussagen genauer zu lesen: Natürlich sind Behandlungen an bewusstlosen Menschen nicht als Menschenrechtsverstöße zu werten, aber das war auch nicht mein Punkt. Es geht nicht darum, dass Menschen ohne ihr Einverständnis, sondern gegen ihr ausdrückliches Einverständnis behandelt werden. Das ist ein klarer qualitativer Unterschied. In welchem Zustand sich ein Mensch befindet (ob Delir, Alkoholrausch oder Wahn) können Außenstehende auch hier wieder nur mutmaßen. Abgesehen davon darf ich nochmal auf meine, in der vorherigen E-Mail erwähnte, Aussage hinweisen, dass eine Person sich nicht für ihren geistigen Zustand oder ihre Entscheidungsgrundlage gegenüber Anderen rechtfertigen muss, wenn sie eine körperverletzende Intervention bzw. Behandlung ablehnt.
Ihre Behauptung, dass viele Menschen sich dankbar dafür zeigen, muss ich erneut zurückweisen und darf sie auch in diesem Punkt abermals auf meine vorausgegangene E-Mail verweisen, wo ich darauf verwiesen habe, dass die Studienlage einstimmig zu dem Ergebnis kommt, dass die Mehrheit psychiatrische Zwangsmaßnahmen auch im Nachhinein noch klar ablehnt und nicht als Hilfe bewertet. Auch hier ignorieren Sie, wie schon bei der vorherigen Sachlage, die tatsächlichen quantitativen Verteilungsverhältnisse. Die „Helfer“ sind leider oft die einzigen, welche die Gewalt, die sie ausüben, als „Hilfe“ verstehen.
Alleine die Tatsache, dass es sich um eine Hilfe handeln soll, obwohl sie gleichzeitig von der UN, von Soziologen und Politologen als Folter eingestuft wird, offenbart ein sehr seltsames Hilfeverständnis. Alleine der Verdacht auf Folter sollte doch schon ausreichen, einen skeptisch werden lassen. Was soll das für eine Hilfe sein, für die man Fesseln benötigt? Was soll das für eine Hilfe sein, die Menschen mit aller Gewalt einer Lebenspflicht unterwirft? Zwangspsychiatrie beruht auf der Vortäuschung von behaupteter Hilfe und Fürsorge und jeder, der auch nur ein wenig Respekt vor den vielen Menschen und ihren psychiatrischen Erfahrungen mit deren Gewalt hat und die das auch seit Jahrzehnten immer wieder vorgetragen haben, für den müsste sich m.E. die Benutzung eines solchen Begriffs in diesem Kontext verbieten.
Lassen sie mich zum Abschluss noch folgendes zur Rolle von AI sagen: ich kann nirgendwo erkennen, dass AI gegen die von der Psychiatrie ausgeübte Gewalt vorgeht oder sich engagiert. Ein Politologiestudent von der Freien Universität Berlin hat erst im Frühjahr dieses Jahres eine Befragung unter acht in Deutschland tätigen Menschenrechtsorganisationen zu deren Verhältnis und Engagement gegen Psychiatriegewalt durchgeführt.
Diese Untersuchung wird in Kürze veröffentlicht werden. Mir liegt diese Arbeit jetzt schon vor und damit auch die Antwort von Mariana Lopez, die für AI dazu Stellung nahm. In diesem Statement erklärt sie offen, dass Menschenrechtsverletzungen in deutschen Psychiatrien kein Teil der Arbeit von AI sind und AI dazu auch keine Position bezieht. Mit anderen Worten: AI ignoriert dieses Problem und sieht die Menschenrechte in der Psychiatrie nicht als Teil ihrer Arbeit an, obwohl das seit 1992 Teil des Mandats sein müsste, siehe: http://www.iaapa.de/zwang2_dt/halmi.htm#2. Z.B. könnte Solidarisierung, Unterstützung oder Hilfe von AI gegen zwangsweises Elektroschocken nur dann erwartet werden, wenn es weit weg und von bestimmten autoritären Regimen ausgeübt wird.
Für unsere weitere Diskussion würde ich mich sehr freuen wenn sie inhaltlich auch auf meine Punkte eingehen würden, so wie ich es versucht habe, ihre Punkte und Argumente aufzugreifen. Viele meiner angesprochenen Punkte sind leider von Ihnen bisher unkommentiert geblieben.
Mit freundlichen Grüßen
rene talbot
Betreff: Aw: website updated rene talbot Mailwechsel
Datum: Sun, 3 Jul 2016 23:02:52 +0200
Von: Michael Huppertz
An: rene talbot, Interne Liste Aktionsnetz Heilberufe Amnesty
Lieber Herr Talbot,
Hier also noch einige Klarstellungen und Kommentare meinerseits:
Sie wollten wissen, was ich mit „Unterstellungen“ meine. Ich bezog mich auf folgende Passage in Ihrem vorangehenden Mail:
„Die Relativierung menschenrechtlicher Standards führt zu der absurden Situation, dass viele Menschenrechtsorganisationen – Sie selbst deuten eine solche Haltung ja ebenfalls an – sich weigern, psychiatrische Maßnahmen wie Isolationshaft, extrem restriktive Fesselungen, das Einsperren in enge Käfige, die Verabreichung von Psychopharmaka und Elektroschocks oder die Anwendung körperlicher Gewalt als Menschenrechtsverletzungen überall anzuerkennen, nur weil diese Maßnahmen erkrankte Personen betreffen und vermeintlich zu deren Nutzen und in guter Absicht geschehen.“
Sie bringen hier in einem Satz ganz verschiedene Sachverhalte unter, weil das für Sie scheinbar alles dasselbe ist. Natürlich wenden wir uns gegen Isolationshaft usw., aber nicht gegen jede Art körperlicher Gewalt, z. B. zum Schutze anderer Menschen oder zur Verhinderung eines Suizids. Wie eigentlich schon zwischen uns geklärt, sind Zwangsmaßnahmen nur deswegen, weil jemand psychisch krank ist, nicht zu billigen. In diesem Sinne ist auch der von Ihnen zuletzt zitierte & 48 des Berichts des Menschenrechtsrats für uns völlig unproblematisch. Genau das geschieht aber weltweit und dagegen wollen wir genauso wie Sie vorgehen. Natürlich auch gegen die Art von exzessiven Zwangsmaßnahmen, die Sie beschreiben.
Sie interessieren sich immer nur für die individuellen Rechte des einzelnen psychisch Kranken, aber nicht für die Menschenrechte der von seinen Handlungen u. U. Betroffenen. Immerhin aber sind Sie mir im Falle des Piloten erheblich entgegen gekommen. Sie akzeptieren offensichtlich, dass man ihm die Fluglizenz hätte entziehen sollen und dürfen und das wohl auch zwangsweise. Man hätte ihn also sicher auch am Betreten der Cockpits hindern dürfen usw., natürlich möglichst ohne körperliche Gewalt, klar. Aber sicher doch auf Grund einer Einschätzung, dass von ihm eine Gefährdung ausgeht, also einer Art Expertise. Das relativiert manche Ihrer kategorischen Aussagen, ich zitiere: „Nach meiner ethischen Überzeugung haben Dritte nie das Recht, Gültigkeit für ihre Einschätzung über den psychischen Zustand eines Menschen zu beanspruchen, wenn dieser selbst diese Einschätzung ausdrücklich zurückweist. Dieses Recht entsteht auch nicht durch eine fachliche Qualifikation, wie etwa eine Ausbildung zum Psychiater, da das umfänglichste Wissen (und damit auch die Deutungshoheit) über die eigenen Gedanken und die eigene Persönlichkeit immer dem jeweiligen Menschen selbst vorbehalten ist. Außenstehende sind nie in der Lage die Persönlichkeit eines Menschen in dem Maß zu erfassen, wie der Betroffene selbst……..Zudem verbietet das Recht auf Selbstbestimmung prinzipiell eine Einmischung durch Dritte verbunden mit der oben beschriebene Anmaßung, dass dieser nicht selbst in der Lage sei, seinen Zustand zu erfassen und auf Basis der Eigenverantwortung Entscheidungen für sich zu treffen. Eine tatsächliche Wahrung der Menschenrechte kann immer nur aus Angeboten zur Hilfe bestehen, die für den Betroffenen auch die Möglichkeit beinhalten müssen, diese ablehnen zu können.“ Wie sollte man dann aber eine solche Zwangsmaßnahme begründen, selbst dann man auf Begriffe wie „psychische Erkrankung“ verzichtet?
„Außenstehende sind nie in der Lage die Persönlichkeit eines Menschen in dem Maß zu erfassen, wie der Betroffene selbst.“ Diese Aussage entzieht der Psychologie, Sozialpsychologie, Psychotherapie und Psychiatrie den Boden, denn alle diese Wissenschaften gehen davon aus, dass Außenstehende mehr über die Persönlichkeit eines Menschen in Erfahrung bringen können als dieser selbst bereits weiß. Übrigens auch den Gesellschafts- und Geisteswissenschaft, wenn man eine Persönlichkeit auch als soziale Entität versteht und so etwas wie eine hermeneutische Forschung akzeptiert. Dies ist die erste theoretische Schwäche, die ich in Ihren Äußerungen finde. Sie stehen mit dieser gewagten These hier in einer Begründungsverpflichtung. Sie können aber auch nicht erwarten, dass sich eine Organisation wie Amnesty gegen diese gesamte wissenschaftliche Forschung stellt.
Die Studie zur Entlassung forensischer Patienten sagt m. E. gar nichts über die alltägliche Situation aus, in der sich die Polizei befindet, wenn sie mit einem verwirrten Menschen umgehen muss. Schon gar nichts über die Validität ihrer Einschätzungen vor Ort. Richter haben es da allerdings schon schwerer und in der Haut forensischer Kollegen möchte ich oft nicht stecken. Es ist schwierig und sehr verantwortungsvoll, über die Entlassung forensischer Patienten zu entscheiden. Ihre zitierte Studie zeigt das, aber was schlagen Sie zur Lösung der Probleme vor? Sollen alle Straftäter ins Gefängnis? In den von Ihnen zugesandten Videoberichten über die USA sieht man doch gerade, wozu das führt. Die Schätzungen gehen Richtung 100 000 Insassen in US-Gefängnissen, die eigentlich psychisch krank sind. Sie bekommen keine adäquate Betreuung und gehen in diesem Milieu unter, werden misshandelt, kommen zu Tode. Wenn Sie aber nicht dorthin sollen, wohin dann? Und wenn nicht ins Gefängnis, muss dann nicht jemand eine Diagnose stellen, ein Gutachten schreiben und für eine evtl. Schuldminderung auch einen Zusammenhang zwischen Erkrankung und Tat aufzeigen?
Der Fall des Piloten ist extrem, aber folgende Herausforderungen sind es nicht: Eine Frau mit einer postpartalen Psychose, der man nicht ihr Kind alleine überlassen will, ein dementer Patient, der als Geisterfahrer unterwegs ist (also ein hirnorganisch – somatisch – kranker Patient, dessen Selbsteinschätzung man nicht akzeptiert, ein Fall, den Sie nicht für möglich halten), ein depressiver oder persönlichkeitsgestörter Mensch, der von einer Autobahnbrücke springen will oder ein paranoider Patient, der eine alte Frau die Treppe hinunterstößt, weil er sie für eine Agentin hält usw. In den meisten dieser Fälle treten die Öffentlichkeit, Angehörige oder die Polizei an Psychiater heran und bitten um Hilfe, weil sie von sich aus den Eindruck haben, dass hier jemand nicht weiß er tut und dass er die Situation, in der er sich befindet, nicht ausreichend einschätzen kann. Sie sagen: „In welchem Zustand sich ein Mensch befindet (ob Delir, Alkoholrausch oder Wahn) können Außenstehende auch hier wieder nur mutmaßen“. Sicher, aber wenn Sie sehen, dass jemand eine leere Flasche Wodka in der Hand hat und nicht mehr stehen kann, würden Sie nicht Ihre Mutmaßung vertreten, dass er betrunken ist? Ich denke, mit dem Fall des Piloten haben Sie die Berechtigung von Mutmaßungen über potenziell gefährliches Verhalten anerkannt.
Nun werden Sie wohl generell den Wert psychiatrischer Diagnosen anzweifeln. Aber auch da war ich beruhigt zu lesen: „Auch habe ich nichts gegen die Entwicklung von Therapien und Bestrebungen zur Verbesserung der Situation von Menschen mit psychischen Problemen, aber nur unter der ausnahmslosen Voraussetzung, dass diese nicht gegen den erklärten Willen eines Menschen durchgeführt werden.“ „Therapie“ setzt eigentlich eine Diagnose voraus, aber gerne können Sie auch von „psychischen Problemen“ sprechen. Können Menschen krankheitsbedingt oder auf Grund von psychischen Problemen nicht zu einer freien Willensäußerung in der Lage sein? Sie werden sagen, das ist unmöglich und darin liegt m. E. Ihre zweite theoretische Schwäche. Ich sehe hier eine Fortschreibung der Antipsychiatrie, die sich ja stark auf den Existenzialismus bezog und ihn so verstand, dass der Mensch immer und überall sich als Individuum erfinden muss und kann, woran ihn vor allem andere Menschen, die Familie oder die Gesellschaft hindern. Diese Autonomie ist eine starke und wichtige Forderung, aber keine Realität. Dieses Menschenbild ist um all die Anhängigkeiten verkürzt, die uns unser Körper und unsere soziale Natur setzen. Dies aufzuzeigen war eine der Hauptleistungen der Philosophie der letzten 50 Jahre. Der freie Wille eines Menschen ist sehr labil. Dass Sie ihn als Forderung und kontrafaktische Unterstellung hochhalten, macht Ihr Engagement wertvoll. Aber wenn Sie nicht sehen wollen, dass Menschen in bestimmten Situationen nicht frei entscheiden können und dass die Ursachen hierfür auch in ihm selbst liegen können, ist Ihr Menschenbild schlicht zu einfach. Ich gehe davon aus, dass psychiatrische oder neurologische Erkrankungen, Drogen usw. die (Selbst-)Verantwortlichkeit und die Entscheidungsfähigkeit eines Menschen außer Kraft setzen können. Die Schwelle, dies zu attestieren, sollte sehr hoch liegen, aber irgendwo liegt sie und dann muss man für diesen Menschen sorgen und andere Menschen vor ihm schützen, auch wenn er dies ablehnt. Natürlich mit einem Minimum an Zwang. Dies kann auch eine Behandlung gegen seinen Willen einschließen und das ist sicher der heikelste Punkt. Es kann aber sein, dass ein Mensch auch diese Möglichkeiten nicht versteht und z. B. aus psychotischer Angst jede Annäherung, auch eine ärztliche Untersuchung und Beratung, als Bedrohung erlebt. Was machen Sie in diesem Falle? Was machen Sie, wenn ein Mensch situativ völlig desorientiert ist? Wenn er mutistisch ist? Wenn er sich umbringen will, weil er in einer schweren Depression ist und – verschärfen wir es – glaubt todkrank zu sein oder jemanden umgebracht zu haben? Manchmal habe ich das Gefühl, dass Psychiatriekritiker hauptsächlich an mehr oder weniger glückhafte Psychosen denken, die es natürlich gibt, aber selten sind, den an seiner Psychose und den damit verbundenen Ängsten Leidenden und damit Vereinsamten aber nicht sehen wollen.
Ich denke auch, dass es in Deutschland zu viele Zwangsaufnahmen und –behandlungen gibt, v. a. weil die ambulante, aufsuchende Psychiatrie nicht entwickelt wurde. Es kommt zu Freiheitsberaubungen und damit zu Menschenrechtsverletzungen. Ich sehe nicht, warum sich Amnesty grundsätzlich dieses Themas nicht annehmen sollte. Dabei würde es sicher eine Überschneidung mit ihrem Anliegen geben, aber die Kooperation dürfte schwierig werden, wenn Sie bei dieser weiten Verwendung des Vorwurfs der Menschenrechtsverletzungen bleiben. Ich glaube nicht, dass Amnesty sich generell gegen die Humanwissenschaften und gegen das Engagement aller psychiatrischer Berufsgruppen stellen würde, das auch Menschen gilt, die nicht für sich sorgen können. Ich könnte es auch nicht befürworten und verantworten.
Last but noch least: Unsere aktuelle Projektentwicklung gilt vor allem Menschenrechtsverletzungen an psychisch Kranken außerhalb der Psychiatrie. Der weitaus größte Teil der Menschen in den armen Ländern der Erde hat gar keinen Zugang zu irgendeiner psychiatrischen Versorgung. Dennoch werden ihre Rechte mindestens so stark verletzt wie in den wenigen, in der Regel miserablen psychiatrischen Einrichtungen, die es in diesen Ländern gibt. Wenn es sie interessiert, schauen Sie sich bitte ein kurzes Video der New York Times an: http://www.youtube.com/watch?v=uKd9MxBzAUc („The Chains of Mental Illness in Westafrica). Mit unseren Forderungen werden wir uns an der „Convention of the Rights of Persons with Disabilities“ (UN 2006) orientieren. Darin werden folgende Forderungen festgehalten:
– equality
– non-discrimination
– freedom from inhuman and degrading treatment
– the principle oft the least restrictive environment
– rights to information and participation
Zu dem letzten Punkt gehört auch die Einrichtung von Kontroll- und Einspruchsinstanzen für psychisch Kranke, die Zwangsmaßnahmen unterliegen – in diesen Ländern vor allem durch Familienangehörige, Dorfgemeinschaften, Heiler, religiöse Zentren. An solchen Instanzen mangelt es in vielen Ländern völlig. Aber natürlich recherchieren wir auch die Menschenrechtsverletzungen, die psychiatrische Institutionen zu verantworten haben. Ich sehe da einen langen Weg und viel Arbeit vor uns. Ich hoffe, Sie sind mit einigen dieser Ziele solidarisch, auch wenn sie Ihnen nicht weit genug gehen.
Viele Grüße und danke für Ihre Diskussionsbereitschaft,
Michael Huppertz
Betreff: Re: website updated rene talbot Mailwechsel
Datum: Tue, 5 Jul 2016 22:11:18 +0200
Von: rene talbot
An: Michael Huppertz, Interne Liste Aktionsnetz Heilberufe Amnesty
Sehr geehrter Herr Huppertz,
Am 03.07.2016 schrieb Michael Huppertz:
> Hier also noch einige Klarstellungen und Kommentare meinerseits:..
..auf die ich so antworten möchte:
Vielleicht trägt es zur Klarheit bei, wenn ich die eingangs von Ihnen angesprochenen Gewaltmaßnahmen etwas in den Kontext setze. Die menschenrechtliche Perspektive auf Gewalt ist zunächst einmal eine Perspektive der Menschen, die dieser Gewalt ausgesetzt sind. Auch ich bin nicht absolut gegen körperliche Gewalt, sondern kann sie, in einem sehr stark eingeschränkten Rahmen, beispielsweise in einer Notwehrsituation, sogar befürworten. Der Unterschied zu Ihnen ist, dass ich diesen Rahmen sehr viel enger abstecke und auch bestimmte Arten von Gewalt oder Arten von Waffen, die eine spezifische Gewalt erzeugen, unter allen Umständen ablehne. Einfach weil diese so sehr grausam und unmenschlich sind, dass es niemals eine Rechtfertigung geben kann, welche diese Art von Gewalt notwendig macht. Das internationale Menschen- und Völkerrecht der UN sieht diese Differenzierung ebenso und bezeichnet diese Kategorie von Gewalt als „Folter“ oder „grausame, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung“.
Diese Gewalt ist unter keinen denkbaren Umständen gerechtfertigt, nicht einmal im Kriegsfall, und damit immer ein Verbrechen. Zu dieser Kategorie von Gewalt zähle ich auch alle angeführten psychiatrischen Gewaltmaßnahmen und mit mir sehr viele Psychiatrie-Betroffene, der UN-Antifolterberichterstatter und der UN-Fachausschuss für die Rechte von Menschen mit Behinderungen. Vor dem Hintergrund dieser Kategorie antworte ich Ihnen klar: ja diese Gewaltmaßnahmen sind für mich alle dasselbe, zumindest eben in Hinblick auf die Tiefe und Qualität der Menschenverachtung, der Schädigungen und der Brutalität, die sie für die Opfer bedeuten und alleine das ist es, wie eingangs erwähnt, was für mich primär bei der Bewertung eine Rolle spielt.
Ich nehme an, dass es auch für Sie Gewalt gibt, die niemals ethisch vertretbar ist wie vielleicht Vergewaltigungen oder andere sexuelle Gewalt. Uns unterscheidet dann nur, dass Sie psychiatrische Gewalt nicht in dieser Kategorie angesiedelt sehen, und begründen dies damit, dass es für Sie eben doch besondere Situationen, Umstände oder Menschen mit gefährlichen Verhaltensmustern gibt, die eine solche Gewalt erfordern. Möglicherweise geschieht dies aus Hilflosigkeit, weil Sie keine gewaltfreien Alternativen für solche Fälle sehen, oder weil Sie ein übergeordnetes Ziel sehen (Gesundheit, Herstellung der „Einwilligungsfähigkeit“, Schutz Dritter), welches sie als so wichtig und wertvoll empfinden, dass sie dafür selbst sehr viel weiter bereit sind zu gehen, als ich oder die betroffene Person selbst.
Ich möchte versuchen Sie abstrahiert in meine Perspektive zu setzen und ihnen dafür die hypothetische Frage stellen: Würden Sie denn eine Vergewaltigung befürworten, wenn sie notwendig wäre, um das Leben eines suizidgefährdeten Menschen zu retten? Ich möchte die Antwort nicht vorweg nehmen, weil diese Frage durchaus nicht rhetorisch gemeint ist, aber gerade vor dem Hintergrund, dass zahlreiche Studien, die das Erleben der Betroffenen von Fixierungen untersucht haben, bekommt diese Frage eine reale Relevanz, denn viele dieser Betroffenen wählen selbst den Vergleich, dass sie ihre Fixierung wie eine Vergewaltigung empfunden haben. Darf man also jemanden psychisch und körperlich (non-sexuell) „vergewaltigen“ um sein Leben zu retten? Beginnend vom Ausgangspunkt der Opferperspektive und ihrer Priorität, würde die konsequente Anerkennung dieses Erlebens bedeuten, dass Fixierungen eine Dimension von Gewalt darstellt, die ethisch niemals vertretbar ist.
Von hier aus kann ich sehr schön überleiten zu ihrem zweiten Aspekt, nämlich der Stellung Dritter. Sie behaupten, ich interessiere mich „immer nur für die individuellen Rechte des einzelnen psychisch Kranken, aber nicht für die Menschenrechte der von seinen Handlungen u. U. Betroffenen.“ Das ist so nicht richtig, denn natürlich interessieren mich die Menschenrechte jedes Menschen gleichermaßen und das ist auch ein zentraler Bestandteil der Menschenrechtsphilosophie, Stichwort: Unteilbarkeit der Menschenrechte.
Am Beispiel des Piloten verdrehen Sie allerdings die Verhältnisse, denn das Recht, ein Flugzeug zu führen, ist kein Menschenrecht, sondern von Vornherein ein erworbenes Recht, welches an Bedingungen geknüpft ist. Die Einschränkung solcher erworbenen Rechte steht und fällt mit der Erfüllung dieser Bedingungen, in diesem Fall also der Flugtauglichkeit. Umgekehrt fällt die Entziehung der Fluglizenz auch nicht in die von mir eingangs beschriebene Kategorie der inakzeptablen Menschenrechtsverletzungen von Folter und grausamer, unmenschlicher und erniedrigender Behandlung. Insofern ist das Beispiel gänzlich ungeeignet, wenn es um psychiatrische Gewalt geht.
Viele Menschenrechtseinschränkungen sind nach dem Völkerrecht prinzipiell natürlich möglich und so ist auch die Entziehung der Fluglizenz eine vertretbare Einschränkung. Milde Einschränkungen kann man also durchaus mit einem bloßen Verdacht begründen und dies geschieht so auch in allen anderen Rechtsfeldern, wo bei begründetem Verdacht Grundrechte vorübergehend außer Kraft gesetzt werden (etwa bei polizeilichen Hausdurchsuchungen, Beschlagnahmungen usw.). Abgesehen davon, dass in der Psychiatrie diese Einschränkungen nicht geringfügig sind und auch grundsätzlich nicht vorübergehend stattfinden, bestreite ich nach wie vor die Validität einer psychiatrischen Diagnose.
Die Diagnostizierung eines Piloten als „psychisch gestört“ entgegen seiner Auffassung stellt für sich genommen schon eine Diskriminierung und damit auch eine Menschenrechtsverletzung nach Artikel 7 (Diskriminierungsverbot) auf Basis von Artikel 18 (Gedankenfreiheit) und 19 (Meinungsfreiheit) dar. Aber dennoch wären diese Folgen für den Piloten selbst reversibel und mit Blick auf die potentielle Lebensgefahr für mehrere Duzend Passagiere (die sich ja immer zwingend aus der Funktion eines Piloten ergibt), auch auf einen begründeten Verdacht hin verhältnismäßig und das möglicherweise sogar präventiv. Nach wie vor stelle ich auch in Frage, wie begründet ein Verdacht ist, der durch eine psychiatrische Begutachtung entsteht, denn Psychiater können nicht mehr oder weniger herausfinden und valide feststellen, als jeder andere Mensch auch. Um solch einen begründeten Verdacht zu erzeugen bedarf es also keiner „Expertise“ und schon gar nicht durch einen Psychiater.
Wenn der Pilot sich klar dazu äußert, welche Absichten er hat, kann das jeder Laie erkennen und melden, ohne auf psychiatrische Krankheitskonzepte zurückgreifen zu müssen. Wenn er sich nicht dazu äußert, kann das niemand erkennen und es bleibt sein Geheimnis. Wenn der Pilot nur Andeutungen machen sollte, werden immer einige Menschen/Psychiater diese willkürlich mehr oder weniger als tatsächliche Gefahr interpretieren oder eben nicht. Einige werden dabei besonders vorsichtig sein und andere besonders großzügig. Alles was also nicht eindeutig von der Person selbst benannt wird, bleibt Spekulation und Kaffeesatzleserei und eben jenes Tagesgeschäft der Psychiater. Das wird auch regelmäßig in prominenten Gerichtsverfahren deutlich, wie etwa im Falle von Anders Breivik, wo mehrere psychiatrische Gutachten sich nicht einmal im Ansatz darüber einig sind ob die Person überhaupt „gestört“ ist und wenn ja, welche Störung dann nun genau vorläge.
Ich möchte schlicht nicht, dass diese unwissenschaftliche Disziplin mit ihren Mutmaßungen Macht über Menschen, über ihren „gesundheitlichen“ Status, ihre Zukunft oder ihr Leben generell entfaltet. Diejenigen, die den Krankheitsmodellen und dem Menschenbild der Psychiatrie folgen wollen, können das gerne freiwillig tun, so wie auch jeder an die Validität von Homöopathie, Neuraltherapie oder traditioneller chinesischer Medizin glauben kann. Jeder Mensch muss aber gleichberechtigt das Recht haben, Psychiatrie für unwissenschaftlichen Blödsinn zu halten und er muss das Recht haben, jeglichen Kontakt mit der Psychiatrie mit einem Nein abzulehnen.
Richtig haben Sie also erkannt, dass ich die Validität von Psychiatrie und Psychologie ablehne. Nicht umsonst zählen diese zu den weichen „Wissenschaften“ deren Inhalte vor allem auf Thesen und Theorien beruhen und deutlich weniger auf Gesetzmäßigkeiten und belastbaren Erkenntnissen. Psychiatrie ist eine der wenigen heute etablierten Wissenschaften, die fortwährend und ganz grundsätzlich in ihrer Eigenschaft als Wissenschaft in der Kritik steht, vor allem von Seiten der Pädagogik, der Soziologie und der Politikwissenschaft. Ich darf auch an dieser Stelle nochmals auf das Rosenhan-Experiment hinweisen, welches ebenfalls gezeigt hat, dass Psychiatrie nicht einmal den selbstformulierten Ansprüchen, z.B. zwischen psychisch „krank“ und „gesund“ unterscheiden zu können, gerecht werden kann. Vielleicht wird das durch die mehrmalige Unauffälligkeit des Postboten Gert Postel als Psychiater und Oberarzt noch deutlicher.
Alternative Ansätze zur Psychiatrie gewinnen zunehmend an Bedeutung und plädieren für ein anderes Menschenbild. All das zeigt, dass die Psychiatrie in der Krise steckt und sich schon immer und aus guten Gründen massiver Kritik ausgesetzt sah und kein Ende dieser Entwicklung in Sicht ist.
Zur Studie von Herrn Alex möchte ich folgendes hinzufügen: Die zitierte Studie zeigt zunächst einmal, dass die Mehrheit der Menschen in der Forensik höchstwahrscheinlich in Freiheit ungefährlich ist und sie damit zu Unrecht eingesperrt sind. Eigentlich erwarte ich von jemandem, der sich selbst als Menschenrechtler sieht, dass dieser Aspekt der ganz Zentrale für ihn ist. Sie aber erwähnen zuerst die Polizisten, die Richter und die „forensischen Kollegen“, die mit diesen Menschen umgehen müssen. Auch hier begehen Sie wieder den eingangs angedeuteten Fehler, nicht die Menschen zu priorisieren, deren Menschenrechte verletzt werden und die sich tatsächlich in der deutlich schrecklicheren Situation befinden.
Alleine, dass Sie von „Persönlichkeitsstörungen“ oder „verwirrten“ Menschen sprechen, zeigt, dass Sie die Gedanken, die Orientierung, die Autonomie von Menschen nicht respektieren und offenbart einmal mehr die Unwissenschaftlichkeit, denn „Verwirrtheit“ ist ein Begriff, den ich beliebig und möglicherweise nicht einmal völlig zu Unrecht jedem AfD-Politiker attestieren könnte. Trotzdem tue ich das nicht. Ebenso ist mir unklar, was das für ein Menschenbild sein soll, welches von „gestörten“ Persönlichkeiten ausgeht. Es ist traurig, dass ich Sie an dieser Stelle darauf aufmerksam machen muss, dass das Menschenbild, dem die Menschenrechte zugrunde liegen, ein anderes ist. In Artikel 1 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte heißt es: „Alle Menschen sind frei und gleich an Würde […] geboren. Sie sind mit Vernunft […] begabt […].“ Weiter nennt Artikel 3 (a) der CPRD als Grundsätze „die Achtung der dem Menschen innewohnenden Würde, seiner individuellen Autonomie, einschließlich der Freiheit, eigene Entscheidungen zu treffen, sowie seiner Unabhängigkeit;“. Aus meiner Sicht ist es weder würdevoll, noch respektiert es die Autonomie und Entscheidungsfreiheit eines Menschen, wenn man diesen als „verwirrt“ oder den Kernbereich seines Selbst als gestört bezeichnet.
Erwachsene Menschen tragen immer Verantwortung für ihre Entscheidungen und wissen selbst um die Gründe dafür und ob sie überhaupt welche für notwendig erachten. Ein Verhalten als „verwirrt“ und eine Persönlichkeit als „gestört“ zu bezeichnen, nur weil möglicherweise für die Gesellschaft kein Sinn erkennbar ist, ist Ausdruck einer außenstehenden Arroganz, die glaubt zwischen normal und unnormal, zwischen verwirrt und orientiert, unterscheiden und einordnen zu können. Neo-Nazis oder religiöse Fundamentalisten bezeichnen homosexuelle Menschen noch heute als „sexuell verwirrte Menschen“ und die Psychiatrie pathologisiert Transmenschen unter dem Terminus der „Störung der Geschlechtsidentität“, beides menschenverachtend. Genau diese Sprache transportiert das Menschenbild der Psychiatrie und macht deutlich, dass Menschen in ihrer Gänze nicht respektiert und bedingungslos akzeptiert und voll- und gleichwertig wahrgenommen werden. Damit ist sie Teil der Probleme, der sich soziale Minderheiten oft gegenüber sehen, Teil von Homo-, Trans- und Heterophobie.
In der Tat aber befürworte ich das psychisch „kranke“ Menschen gleichberechtigt mit „gesunden“ behandelt werden und dann auch für Straftaten rechtstaatliche Konsequenzen tragen müssen. Gleichberechtigung bedeutet auch und gerade Gleichheit vor dem Gesetz. Damit relativiert sich die Frage nach der Schuldminderung und ihrer Einschätzung. In der Forensik aber werden Menschen nicht für ihre Straftat eingesperrt, denn das würde und könnte in einem Gefängnis geschehen, sondern für ihren (Geistes)zustand. Die Auffassung, dass Menschen im Gefängnis landen „obwohl sie eigentlich psychisch krank sind“, ist ja erneut nur Ihre Meinung bzw. die Meinung der Psychiater und diese teile ich nicht und die Betroffenen auch nicht. Jeder von den Betroffenen, der ihr doch folgt und glaubt er sei krank, dem steht es dann frei sich freiwillig in eine Psychiatrie verlegen und behandeln zu lassen.
Die schrecklichen Zustände in den Gefängnissen, übrigens nicht nur in den USA, betreffen außerdem alle Häftlinge und sie werden nicht mehr oder weniger schrecklich in Abhängigkeit ob die Person, die darunter leidet, psychisch „krank“ ist oder nicht. Insbesondere lassen sie völlig unberücksichtigt, dass eine Verurteilung mit § 63 ein Lebenslang mit Umkehr der Beweislast ist: Der so Verurteilte (was nur rethorisch als angeblich „unschuldig“ verbrämt wird) muss seine „Ungefährlichkeit“ beweisen, was schlechterdings unmöglich ist. Psychiater haben immer die Macht, z.B. von „vorgetäuschter Krankheitseinsicht“ oder „guter Fassade“ zu schwadronieren.
Sie sprechen viele alltägliche psychiatrische Beispiele an. „Eine Frau mit einer postpartalen Psychose, der man nicht ihr Kind alleine überlassen will, ein dementer Patient, der als Geisterfahrer unterwegs ist […], ein depressiver oder persönlichkeitsgestörter Mensch, der von einer Autobahnbrücke springen will, oder ein paranoider Patient, der eine alte Frau die Treppe hinunterstößt, weil er sie für eine Agentin hält usw.“ All diesen Menschen unterstellen sie eine psychische Störung. Hier wird die Perfidität des psychiatrischen Menschenbildes besonders deutlich. Sie beschreiben ein Verhalten und stellen es in einen Zusammenhang zu einer angeblichen psychischen Störung. Damit laufen Sie automatisch Gefahr jeden, der dieses Verhalten zeigt, für krank zu erklären, ungeachtet dass es völlig verschiedene und für sie nicht erkennbare Gründe für dieses Verhalten geben kann, oder auch einfach gar keine, denn Menschen handeln mitunter auch einfach spontan.
Das Schreckliche an dieser Sicht ist, dass Menschen sich nicht dagegen wehren können. Wenn Psychiater behaupten, der eigene Wille wäre Ausdruck einer Krankheit, ist das objektiv nicht überprüfbar. Überhaupt ist das Menschenbild und die Vorstellung, dass bestimmte Gedanken monokausal auf eine Ursache zurückzuführen wären, populistisch, unwissenschaftlich und nicht respektvoll. Die Zuordnung von Selbsttötungsabsichten zu einer Depression verkennt die vielfältigen bewussten und unbewussten, erkennbaren und verdeckten Ebenen, die zu einer Entscheidung führen können. Oft sind diese Ebenen für die Person selbst so divergent, dass daraus Zustände der inneren Zerrissenheit und Widersprüchlichkeit hervorgehen, die völlig undurchschaubar sind. Man kann selbst eben nie beweisen, dass die eigene Entscheidung auf den freien Willen zurückzuführen ist und nicht auf irgendeine Psychose oder Depression. Damit kann man jedem Menschen aufgrund von bestimmten Ideen, Gefühlen oder Verhaltensweisen immer für krank erklären.
Je mehr sich Menschen dann gegen diese Etikettierung versuchen zu wehren, umso mehr werden sie als gestört angesehen, weil man auch dieses Verhalten dann als „Krankheitsuneinsichtigkeit“ kurzerhand zum Teil der Krankheit macht. In solch einem Fall steht eigentlich Aussage des Arztes gegen Aussage des Betroffenen. Da durch die Diagnose aber gleichzeitig die Aussage des Betroffenen entwertet wird, weil sie ja nicht Ausdruck seines freien Willens sondern nur irgendeiner Störung ist, hört man fast immer auf den Arzt und der Betroffene endet in dessen Fängen in der Psychiatrie. Dieses Prinzip ermöglicht es der Psychiatrie sich gegen jede Einwände und jede Kritik der Betroffenen an ihren Krankheitsmodellen und Diagnosen zu immunisieren, eben Catch-22.
Nach gleichem Muster könnte ich behaupten, sie sind von der wahnhaften Idee besessen, es gäbe psychische Störungen und das ist Ausdruck einer Krankheit. Zusätzlich könnte ich behaupten, dass diese eine große Gefahr für Dritte ist, denn sie wollen andere Menschen, von denen sie überzeugt sind, dass diese krank sind, einsperren und zwangsbehandeln lassen. Also muss man sie einsperren, fesseln und zu ihrem Wohle und dem Schutz der Allgemeinheit von diesem Wahn befreien und behandeln. Wenn sie dann beteuern, aber ganz sicher nicht krank zu sein, behaupte ich eben, dass es ganz typisch für diese Krankheit ist, dass die Menschen die davon betroffen sind, das nicht einsehen können und es umso mehr ein Beleg dafür ist, dass sie ja auf jeden Fall krank sind. Vielleicht können Sie so nachvollziehen, in welchem verzweifelten Teufelskreis sich die Betroffenen oft befinden.
Umgekehrt könnte man den Begriff der psychischen Krankheit auch durch Dämonen substituieren. Man könnte sagen, Psychiater glauben in der Lage zu sein, erkennen zu können, ob ein Mensch von Dämonen besessen ist. Zu seinem Wohl und Selbstschutz argumentiert man dann, dass es unbedingt nötig ist, diesen Menschen auch gegen seinen Willen einem Exorzismus zu unterziehen, um ihn von den Dämonen zu befreien. Auch dieses Szenario kann man nicht mehr oder weniger beweisen, als die Existenz psychischer Krankheiten. Genauso wenig wie aber die meisten Menschen daran glauben, dass jemand von Dämonen besessen sein kann, glaube ich daran, dass jemand vom Wahnsinn in Form von Schizophrenie oder dergleichen befallen sein kann.
Es zeigt, dass auch Psychiatrie mit Wissenschaft nichts zu tun hat und nur davon lebt, Menschen irgendeine Krankheit nachzusagen und sie lebt vor allem davon, dass die Gesellschaft an diese Krankheiten glaubt.
Um aber zu den von Ihnen angesprochenen Beispielen zurück zu kommen: Natürlich ist der Zusammenhang zwischen einer Wodkaflasche und einem Alkoholrausch leicht zu erahnen. Aber die Wirkung einer Droge auf den Körper ist kein Ausdruck einer Krankheit sondern bio-chemischer Prozesse. Und bei einer Psychose? Und woher wissen sie, dass jemand, der sich von einer Brücke stürzen will, depressiv ist? Ist jeder, der sich umbringen will, depressiv oder krank? Und die zentrale Frage: Warum sollte sich dieser Mensch dafür rechtfertigen müssen, warum er sich umbringen will? Das ist alleine seine ganz intime und persönliche Entscheidung. Es hat nicht ansatzweise etwas mit Menschenrechten zu tun, wenn man Menschen zum Leben zwingt, also eine Lebenspflicht vorschreiben wollte. Wer hingegen psychiatrische Zwangsmaßnahmen will, kann sie mit einer positiven psychiatrischen Vorausverfügung legitimieren und legalisieren, siehe:
http://www.psychiatrie-erfahren.de/positivestestament.htm
Deshalb noch einmal zur Klärung: Ich gestehe Angehörigen, Freunden, Polizisten und der Gesellschaft absolut zu, dass der Umgang mit manchen Menschen schwer, ja manchmal sogar unmöglich ist. Dennoch berechtigt diese eigene Hilflosigkeit ethisch nicht dazu, diese Menschen zu fesseln, zu quälen, sie unter Medikamente zu setzen oder sonst irgendwie zu foltern, nur weil man selbst mit ihrem Verhalten ein Problem hat. Es gibt so viele Situationen, die man alleine dadurch lösen kann, indem man sich aus der Situation entfernt. Gewalt und Probleme entstehen oft gerade erst dadurch, dass andere Menschen meinen, sich einmischen und „helfen“ zu müssen. Die Polizei soll sich auf Straftaten beschränken, Freunde und Angehörige müssen begreifen, dass die Person, um die es geht, nicht ihr Eigentum ist und sie keinen Anspruch auf den Menschen haben, wie er „vor der Psychose war“. Wenn sie nicht miteinander auskommen, haben sie die Möglichkeit den Kontakt abbrechen.
Abschließend noch eine Bemerkung, die mich besonders betroffen gemacht hat, weil sie deutlich macht, wie sehr Sie offenbar die Verhältnisse verkennen: Es ist mehr als zynisch, dass Sie befürchten, „psychisch kranke“ Menschen in Gefängnissen „gehen in diesem Milieu unter, werden misshandelt, kommen zu Tode.“ Damit suggerieren Sie, all das würde in der Psychiatrie nicht geschehen und das, obwohl Psychiatrie-Betroffenen und ihre Interessensgemeinschaften genau das seit Jahrzehnten der Psychiatrie vorwerfen, nämlich zu misshandeln, zu foltern, sogar zu töten oder den vorzeitigen Tot durch Medikamente und Elektroschocks billigend in Kauf zu nehmen. Entweder nehmen Sie diese Kritik nicht zu Kenntnis oder sie kehren die Verhältnisse absichtlich um. Für beides habe ich kein Verständnis und keine Worte …
Mit Dank für die Genehmigung zur Veröffentlichung und freundlichen Grüßen
rene talbot