Zum polizeilichen Umgang mit Personen, die psychiatrisch verleumdet werden
Dieser Text ist eine Kombinationsarbeit unter Verwendung eines Online-Vortrags von Prof. Thomas Feltes vom 11.1.2023 – Schrift in blau – und den Änderungen und Ergänzungen – Schrift in rot – durch das Werner-Fuß-Zentrum. Es wurden auch Streichungen durch das WFZ vorgenommen, die aber nicht kenntlich gemacht sind.
Wie wir uns den polizeilichen Umgang mit Personen vorstellen, die leichtfertig als angeblich „psychisch gestört“ vorverurteilt bzw. verleumdet werden.
Denn: Geisteskrank? Ihre eigene Entscheidung!
1. Einleitung
Im Folgenden geht es um Menschen, die beim Zusammentreffen mit Polizeibeamt*innen als „psychisch krank“, „psychisch gestört“ oder „psychisch auffällig“ vorverurteilt bzw. verleumdet werden. Die Frage, ob diese Zusammentreffen zur „psychiatrischen Versorgung“ gehören, ist eine sehr umstrittene Frage; wir meinen, es ist eine politische Frage, die im Kern auf einer diskriminierenden medizinischen Verleumdung und dem entsprechenden Jargon beruht.
Wenn Menschen Probleme haben: sie sollen nicht nur in ihrer Wohnung, bei der Therapie oder in einer Einrichtung entsprechend „versorgt“ werden, sondern die Gesellschaft muss sicherstellen, dass mit allen Bürgern angemessen und Menschenrechte- wie Grundrechte-konform umgegangen wird. Auch und gerade wenn sie sich im öffentlichen Raum bewegen…
Konkret gesagt, das Subjekt ist (zum Glück!) unhinterfragbar. Menschen können aus denselben Gründen das Verschiedenste, ja sogar Gegensätzliche, tun, und sie können aus den unterschiedlichsten Gründen dasselbe tun. Das ist die Ontologie der menschlichen Freiheit. Das Denken, Fühlens oder Wollens eines Menschen ist nur innerhalb von sehr engen Grenzen plausibel vorhersehbar. Von anderen kann es immer auch als ungewöhnlich empfundenen werden. Aber beruhigend ist, dass der Rechtsstaat keinerlei Lücken aufweist, um auch ungewöhnliches Verhalten mit dem Schutz der Strafprozessordnung zu beurteilen, insbesondere wenn die Rechte, das Leben oder das Eigentum anderer Menschen verletzt wurden. Dafür ist der psychiatrische Mummenschanz völlig unnötig, ja schädlich. PsychiaterInnen sind auch ahnungslos, wie es Gert Postel als „Hochstapler“ unter Hochstaplern experimentell bewiesen hat.
Genau diese ontologische Freiheit ist durch das Grundgesetz insbesondere mit Artikel 1 und 2 geschützt.
Bei den als ungewöhnlich empfundenen Verhaltensweisen sollte die Frage, was die tieferen Beweggründe dafür sein mögen für Polizeibeamt*innen im unmittelbaren Zusammentreffen mit diesen Personen und wie sie reagieren sollten, keine oder nur sehr bedingt eine Rolle spielen.
Im Vordergrund darf nur die Tat, die Feststellung des verursachten Schadens und das Bemühen stehen, dass keine anderen unbeteiligten Menschen und deren Rechtsgüter zu Schaden kommen.
2. Vor die Klammer gezogen
Seit Jahren werden mehr und mehr Menschen psychiatrisch verleumdet, Krankheiten erfunden (besonders markant war die Drapetomanie1, der Freiheitsdrang von Sklaven, der als Weglaufsucht psychiatrisiert wurde). Andererseits wurde Homosexualität dem psychiatrischen Blick entzogen, aber ist genauso ein Beleg dafür, dass es willkürliche Verleumdungen sind, die in sog. „psychiatrischen Fachkonferenzen“ diagnostische Verbindlichkeit für nicht kriminalisiertes ungewöhnliches Verhalten erlangen. Diese psychiatrische Verleumdungswalze soll nach Angaben der Weltgesundheitsorganisation (WHO) jeden vierte Menschen im Verlauf seines Lebens erfassen, für Deutschland geht man pro Jahr von rund 28% aus2.
Psychiatrische Verleumdungen fallen aber nicht vom Himmel, sondern entstehen in einer Kultur repressiver Zwangsmaßnahmen, die sich in Deutschland sogar bis zum systematischen ärztlichen Massenmord von 1939-1949 gesteigert hat, der zur Shoah geführt hat3.
3. Drei Beispiele
Bremen, Juni 2020
Mohamed Idrissi stirbt bei einem Polizeieinsatz4. Ausgangspunkt war ein zeitgleich stattfindender Polizeieinsatz wegen einer Sachbeschädigung und einer ärztlichen Begutachtung (Vorführung).
Dortmund, August 2022
Mohamed Dramé wird von einem Polizisten mit 5 Schüssen aus einer Maschinenpistole getötet5. Ausgangspunkt war hier der Verdacht auf Selbstgefährdung (Suizid) eines in einer Jugendhilfeeinrichtung untergebrachten 16-Jährigen Flüchtlings.
Mannheim, Mai 2022
Ein Arzt des (schlimmen) Mannheimer Zentralinstituts für seelische Gesundheit hatte die Polizei über einen Patienten informiert, der die Einrichtung verlassen habe und „Hilfe benötige“6. Zwei Polizeibeamte trafen den 47-Jährigen Patienten in der Mannheimer Innen stadt an. Im Verlauf des Einsatzes soll der Mann Widerstand geleistet haben, weshalb die Beamten unmittelbaren Zwang angewandten. Danach ist der Mann kollabiert und verstarb. Die Autopsie ergab eine „fixationsbedingte Atembehinderung“ (lagebedingter Erstickungstod)7.
4. Empirie
Erkennung, Erfassung, Konsequenzen
In den USA wurden zwischen 2015 und 2020 über 5.680 Menschen durch Polizeischüsse getötet, wobei in 1359 (23 %) dieser Todesfälle nachweislich (!) eine psychiatrisch verleumdete Person beteiligt war. Psychiatrisch verleumdete Personen haben (in den USA) ein etwa 16-mal höheres Risiko, bei einer Schießerei mit Polizeibeteiligung getötet zu werden als andere8.
Gleichzeitig werden in den USA von Gerichten hohe Schadenersatzzahlungen angeordnet, wenn … Menschen von der Polizei getötet werden. Das … bekannteste Beispiel dürfte George Floyd und der letzte vom 7.1.2023 der von Tyre Nichols sein. In Minneapolis war der Vergleich mit der Familie von George Floyd eine Schadenersatzzahlung in Höhe von 27 Millionen Dollar. In Oregon9 erhielt eine Familie eine Entschädigung in Höhe von 4,55 Millionen Dollar nachdem ein Polizeieinsatz tödlich endete. In Rochester, N.Y., zahlte die Stadt 12 Millionen Dollar Entschädigung wegen widerrechtlicher Tötung durch Polizei. Der Tod trat hier ein, nachdem die Polizei eine „Spuckhaube“ über den Kopf gestülpt und den Kopf auf den Bürgersteig gedrückt hatte (LET)10.
Für Deutschland gibt es Hinweise, dass mindestens die Hälfte der von Polizeibeamt*innen durch Schüsse (!) getöteten Personen psychiatrisch verleumdet wurden11. Eine systematische Erfassung von anderen Fällen (ohne Schusswaffen einsatz) erfolgt nicht.
Oft sind die Betroffenen arm, arbeitslos, hatten Gewalt und Diskriminierung erfahren, waren gestresst, einsam, nutzten Drogen und waren in schlechter körperlicher Verfassung.
Aktuelle Forschungen behaupten, dass Straftäter12 an Kriminalitätsschwerpunkten, sog. „hot spots“, häufiger durch Diagnosen psychiatrisch verleumdet werden13
5. Einsatzsituationen
Einsätze in Verbindung mit psychiatrisch verleumdeten Personen sind dabei – ganz gleich wann und wo sie sich ereignen – in vielfacher Hinsicht für Polizeibeamte besonders, weil sie von den üblichen Situationen abweichen und häufig mit dem Einsatz von unmittelbarem Zwang oder sogar mit Schusswaffengebrauch einhergehen. Gleichzeitig sind die Auswirkungen für die Betroffenen erheblich, und zwar auch für die Polizeibe amt*innen, die nach entsprechenden Einsatzsituationen u.U. ein lebenslanges Trauma mit sich tragen und unter PTBS leiden.
Dabei kommen viele Polizeibeamte nie in die Situation, von der Schusswaffe Gebrauch machen zu müssen. Gerade weil diese Situationen (Schusswaffeneinsatz) so selten sind, ist es für Polizeibeamte schwierig, sich dabei angemessen zu verhalten und für uns (WFZ) der Anlass auf die Polizei zuzugehen. Auf der anderen Seite gibt es Berichte, dass Einsätze bei psychiatrisch verleumdeten Personen inzwischen zum polizeilichen Einsatzalltag gehören. Es sind also bestimmte Situationen (mit bestimmten Akteuren auf beiden Seiten?), die „aus dem Ruder“ laufen.
Umso wichtiger ist es, dass Polizeibeamte, wenn sie mit zu so verleumdeten Personen gerufen werden, wissen, wie sie sich angemessen verhalten sollten, um Gefahren für Leib und Leben aller Beteiligten zu minimieren. Es geht in der Regel darum, dass Menschen meist aufgrund von Unsicherheit und Unwissenheit vorverurteilt stigmatisiert oder diskriminiert werden.
Unser Umgang mit angeblicher Behinderungen generell, und mit psychiatrisch verleumdeten Personen im Besonderen ist oftmals weder der Problematik, noch dem betroffenen Individuum gegenüber angemessen. Hinzu kommt, dass die Problematik oftmals falsch eingeschätzt wird und eine von der Person ausgehende Gefahr angenommen wird, wo möglicherweise lediglich eine Unsicherheit oder Verunsicherung, womöglich nur ein Missverständnis zu Grunde liegt.
Regelmäßig kommt es nur dem Anschein nach beim Umgang mit psychiatrisch verleumdeten Personen zu provozierten Angriffen. Angriffe dieser Personengruppe sind nicht zufällig. Die Angriffe erge ben sich zumeist aus vorherigen Interaktionen, die Frustrationen, Unsicherheit oder das Gefühl auslösen, angegriffen zu werden. Verteidigung als menschlicher Ur-Reflex spielt hier sicherlich eine wichtige Rolle.
Angeblich reagieren psychiatrisch verleumdete Personen oft sensibler auf ihre Umwelt und erlebten z. B. eine Reizüberflutung, wenn mehrere Personen auf sie einreden. Sie wünschen darum auch eine größere persönliche Distanz als andere Menschen, und deshalb reagieren sie negativ oder aggressiv, wenn man ihnen zu nahekommt.
Psychisch Gestörte sehen die Dinge oft anders als andere Menschen, weil sie sich eher bedroht oder verfolgt fühlen. Deshalb ist es wichtig, dass man ihnen verbal und nonverbal signalisiert, dass sie keine Angst zu haben brauchen, dass man ihnen helfen wird, ihr Problem zu lösen.
Psychiatrisch verleumdete Personen können jedoch, wie andere Menschen auch, Schwierigkeiten haben, mit anderen Menschen konstruktiv zu interagieren. Nie kann man sicher sein, dass sie verbale und nonverbale Botschaften und Signale anders, manchmal sogar total entgegengesetzt wahr nehmen.
Merke: Menschen können aus denselben Gründen das Verschiedenste, ja sogar Gegensätzliche, tun, und sie können aus den unterschiedlichsten Gründen dasselbe tun. Das ist Kern der durch das Grundgesetz in Artikel 2 geschützten Freiheit der BürgerInnen.
Auswertungen von gewalttätigen Auseinandersetzungen zwischen Polizeibeamten und Bürgern deuten darauf hin, dass es häufig schon frühe Warnzeichen gibt. Werden diese erkannt, kann rechtzeitig Distanz gehalten werden.
Polizeibeamte müssen dann, wenn sie auf psychiatrisch verleumdete Menschen treffen, eine Distanzbetonte Einsatztaktik anwenden und entsprechend kommunizieren. Wissen ist aber nicht gleich Handeln. Sehr oft müssen Polizeibeamte in kritischen Situationen sehr schnell reagieren und wichtige Entscheidungen treffen, die ggf. auch Auswirkungen auf Leib und Leben Beteiligter und Unbeteiligter haben. An anderer Stelle hat sich einer der Autoren mit „schnellem und langsamen Denken“ im Polizeiberuf beschäftigt und die Risiken und Nebenwirkungen dargestellt14.
Daher sind die üblichen (und aus der Erfahrung heraus gewonnenen) polizeilichen verbalen und nonverbalen Hinweise und Maßnahmen oftmals für die Betroffenen unverständlich und werden im Extremfall als konkrete Bedrohung empfunden.
Die Lösung muss hier eine Intensivierung der Fortbildung vor Ort (auf dem Revier oder der Wache) sein. Auch anhand von konkreten Einsatzsituationen, die eingehend analysiert werden (z.B. auch mit psychiatrisch verleumdeten Personen), kann die Sensibilität intensiviert werden und es können Abläufe eingeübt werden, um in solchen Situationen angemessener zu reagieren.
6. Symptome und Gefahren
In den o. gen. Beispielen ist typisch, dass sie von einer psychiatrischen Vorverurteilung und Verleumdung geprägt sind. Einerseits handelt es sich oft um mehr oder weniger ausgeprägte Spielarten von Verhaltensweisen, die im Alltag nicht selten sind und als „Marotten“ des Einzelnen wahrgenommen werden, andererseits gibt es situative Verstimmungen, die jede/r kennt.
Insbesondere bei sozialen Ängsten kann es zu plötzlichen Aggressionshandlungen kommen, wenn das Gefühl der Bedrohung durch andere sehr intensiv wird und die Vermeidungsstrategien nicht für erfolgversprechend gehalten werden, um der vermeintlichen Bedrohung noch ausweichen zu können. Auch Panikreaktionen gehören dazu.
Eine posttraumatische Belastungsstörung (schwerwiegende Störung nach einem traumatischen Ereignis, z.B. nach Schusswaffengebrauch) kann Monate oder Jahre später auftreten, oft ausgelöst durch lebhafte Flashbacks (Stichwort: Flüchtlinge aus Kriegsgebieten) und Albträume. Die Betroffenen werden immer ängstlicher, können nicht mehr denken, werden aggressiv. Es besteht die Gefahr der Verkennung der realen Situation. Spezifische Reize (z. B. Knallkörper, Flugzeuggeräusche bei Kriegstraumatisierten) können Auslöser und Verstärker für unerwartete Verhaltensweisen sein. Personen, die im Alltag „normal“ funktionieren, können ohne erkennbaren Anlass Jähzorn, übermäßige Schreckhaftigkeit, Reizbarkeit und Wutausbrüche entwickeln.
Nur nebenbei bemerkt: Die generelle Aussage, dass psychiatrisch verleumdete Menschen ein erhöhtes Risiko für Kriminalität und besonders aggressives Verhalten aufweisen, trifft nicht zu. Zudem handelt es sich bei Taten von psychiatrisch verleumdete Personen vorwiegend um Kleinkriminalität. Eher umgekehrt werden sie zu Opfern von gegen sie ausgeübter Gewalt.
Manche psychiatrisch verleumdete Personen behaupten mitunter, dass sie vor nichts und nieman dem Angst haben. Fall Bremen: „Ich bin aus Stahl“.
Die Angst wird gerade vor anderen nicht zugegeben, weil man sich gerade in einer Bedrohungssituation wähnt und dadurch als verletzlich konzeptioniert, als angreifbar erlebt.
Zu beachten ist auch die Möglichkeit einer drogeninduzierten Verkennung und dem damit einhergehenden Verlust des Bezugs zur gemeinsamen Realität (Fall Sammy Baker15).
Bei unangemessenem Umgang mit den Auffälligkeiten besteht die Gefahr, dass Angst oder Wut gesteigert werden bis hin zum gänzlichen Kontrollverlust und entsprechenden Risiken für Verletzung.
7. Handlungshinweise
Bei Einsätzen sollte darauf geachtet werden, ob die Person über typische, drogenbedingte Auffälligkeiten hinaus weitere ungewöhnliche Auffälligkeiten zeigt. Personen, die Drogen konsumiert haben, kommen Anweisungen nicht nach oder nehmen sie anders wahr, als man es gewohnt ist. Hier geht es darum, die Fremdgefährdung durch solche Personen zu verhindern und diese Personen auch bei einer Eigengefährdung nicht unnötig zu bedrängen.
Generell sind weitere Maßnahmen Hilfe z.B. durch besondere Einsatzkräfte, Informieren der Leitstelle und unerfahrene Kollegen davon abhalten, eine „schnelle Lösung“ (z.B. durch Verhaftung oder Fixierung) herbeizuführen.
Bedrängte Personen leiden oft unter einer unplausiblen Angst. Deshalb meinen sie, sich bewaffnen zu müssen, um wehrhaft, ja bedrohlich zu sein oder zumindest so zu wirken (sog. Toxische Männlichkeit). Sie greifen vorrangig zu Messern, da diese leicht verfügbar sind.
Polizeibeamte erleben solche Menschen als besondere Bedrohung, weil sie ihr Verhalten leicht falsch einschätzen können. Hinzu kommt, dass Selbstkontrollmechanismen auf beiden Seiten dann sehr schnell überfordert sind, wenn zum Stress weitere Faktoren (wie enge Räume) hinzukommen. Polizeibeamte werden dann als akute Gefahr wahr- genommen. Aufgrund einer Reizüberflutung kann dann eine Person leicht überfordert sein.
Die betreffende Person „kann“ oft die Waffe gar nicht fallen lassen (auch wenn sie dazu aufgefordert wird), weil sie sich unbewusst und intuitiv daran festhält und die Muskulatur stark verkrampft ist.
Die wichtigste Regel (auch) zur Eigensicherung lautet: Distanz, ein wichtiger Faktor ist Zeit. Das Raum-Zeit-Theorem spielt inzwischen in den USA bei der Schulung eine wichtige Rolle.
Immer, wenn es im Vorfeld eines Einsatzes Hinweise darauf gibt, dass auch psychiatrisch verleumdeten Personen angetroffen werden könnten, sind zum einen besondere Vorsichts maßnahmen (Selbstschutz) zu ergreifen. Vor allem aber sollte möglichst fachkundige Unterstützung z.B. durch eine Selbsthilfeorganisation wie sie vom WFZ zertifiziert werden könnte angefordert werden. Generell sollten in solchen Fällen nur erfahrene und besonnene Beamte den Einsatz übernehmen.
Von Polizeibeamten kann nicht erwartet werden, dass sie die hier skizzierten Verhaltensweisen verinnerlicht haben, ihre zeitnahen und angemessenen Reaktionen sind entscheidend. Entsprechend sollte die Polizei dafür gewappnet werden, indem es in ihrer Aus- und Weiterbildung Thema und möglichst sogar geübt wird.
Natürlich muss die Polizei immer schützend eingreifen, falls Gefahr für andere Person besteht. Noch mehr als in anderen Fällen, sollte aber hier genau überlegt werden, welche Maßnahmen tatsächlich notwendig und geeignet sind.
Vor allem muss das Strafverfolgungsinteresse im Interesse der Gesundheit der Betroffenen, aber auch unbeteiligter Dritter, zurückstehen, wenn es Hinweise darauf gibt, dass der Störer oder Tatverdächtige eine psychiatrisch verleumdete Personen ist. Die Anwendung von Gewalt muss auf Fälle der Selbstverteidigung, bei versuchter Flucht, sofern Gefahr besteht, reduziert werden, wobei die angewendete Gewalt gesetzliche Grenzen nicht überschreiten darf und immer vor dem Hintergrund des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes gesehen werden muss. Eine polizeiliche Maßnahme (nur) deshalb durchzusetzen, weil man ansonsten glaubt, die eigene Autorität oder die Autorität der Polizei insgesamt werde in Frage gestellt, ist unzulässig.
Uniform und vor allem (sichtbare) Waffen sind wenig hilfreich und kontraindiziert. Wenn also ein Beamter in Zivil verfügbar ist, dann sollte er das Gespräch suchen.
- Problem LET (s. dazu den Beitrag von W. Mallach und mir, FN 7)
- Pfefferspray und Reizgas wirken bei Personen unterschiedlich, auch nicht oder anders. Sie können dadurch besonders aggressiv werden und unvorhergesehene Handlungen vornehmen. Pfefferspray muss extrem zurückhaltend eingesetzt werden, wenn überhaupt. Auch, weil der Einsatz zum Tod führen kann.
- Der Einsatz eines Taser (s. Fall in Dortmund) ist ebenso kritisch zu sehen. Zum einen sind Menschen in psychischen Ausnahmesituationen per se besonders mobil (sie „tanzen“ oftmals) und damit schwer zu treffen. Zudem lassen sich die Risiken und Nebenwirkungen des Taser-Einsatzes nur schwer kalkulieren, vor allem bei solchen Einsätzen. Eine Studie aus dem Jahr 2021 zum Taser-Einsatz in den USA16 zeigt, dass in fast 50% der Anwendungen waren die Taser unwirksam waren, teilweise mit tödlichen Folgen für Polizeibeamt*innen.
- Bodycams müssen in den USA bei solchen Einsätzen eingeschaltet werden und sind für die Aufklärung und das Straf- und Zivilverfahren wichtige Beweismittel. Ganz im Gegensatz zu Deutschland: Hier ist der Einsatz der Bodycam ausschließlich zu präventiven Zwecken vorgesehen (d.h. die Kamera soll abschrecken), was natürlich bei Menschen in psychischen Ausnahmesituationen nicht wirkt. Es besteht keine Pflicht, sie einzuschalten, es ist unklar, ab wann sie eingeschaltet werden soll und vor allem soll sie nicht zu Beweiszwecken bei Polizeigewalt verwendet werden (können), wofür die Polizeigewerkschaften gesorgt haben. Auch die technisch problemlos mögliche und in den USA praktizierte Lösung, die Kamera immer dann automatisch einzuschalten, wenn ein Tasereinsatz vorbereitet wird, wird zwar vom Innenminister in NRW nach dem Vorfall in Dortmund angeblich geprüft; eine Umsetzung erscheine jedoch eher unwahrscheinlich.
Insgesamt gilt: Möglichst viele Informationen (vorab) über die Leitstelle einholen; Ruhe bewahren: langsam und deutlich sprechen, wichtige Dinge wiederholen, nicht provozieren lassen; Angst beim Gegenüber reduzieren: Drohungen vermeiden, Hilfsangebote machen (u.U. auch dem Betreffenden einen kostenlosen Transport anbieten), hohe Anforderungen vermeiden; Wertschätzen des Gegenübers: Interesse und Verständnis zeigen, überhebliche, abwertende oder bagatellisierende Äußerungen vermeiden; Wünsche und Ängste erfragen: Was kann ich für Sie tun? Was möchten Sie auf gar keinen Fall? Lösungen aushandeln und Sicherheit schaffen. Keinesfalls sollte Zwang ausgeübt werden, es sei denn, dieser ist un bedingt erforderlich, um Verletzungen bei anderen zu ver hindern. Bei einer möglichen Schädigung von Eigentum ist im Zweifel diese Schädigung hinzunehmen um Gefahren für Leib und Leben zu verhindern.
8. Strukturelle Lösungen
Um die Sicherheit aller Beteiligten zu erhöhen, wurden in den USA verschiedene Modelle entwickelt, darunter die sog. gemeinschaftsorientierte Polizeiarbeit, Programme und Schulungen für Kriseninterventionsteams (Crisis Intervention Team, CIT) und Co-Responder-Teams und zuletzt die Einführung einer besonderen Notrufnummer (988), verstärkter Einsatz von Trai ningsmethoden zur Stressreduzierung, zur Deeskalation und Schulungen zu impliziten Vorurteilen.
Basierend auf einer aktuellen Untersuchung17 sollen zudem Richtlinien z.B. zur Gewaltanwendung oder der Kontrolle von Polizeihandeln geändert werden. Auch der Einsatz von mehr Zivilisten in der Polizei wird verlangt.
Hintergrund der letzten Forderung ist, dass Polizeibeamte häufig damit betraut sind, auf alle Arten von Vorfällen zu reagieren, einschließlich sozialer Probleme und der Unterstützung von psychiatrisch verleumdeten Personen. Die „Defund-the-Police“-Diskussion in den USA thematisierte dieses Problem, in dem eine Verlagerung von Finanzmitteln in andere Bereiche (z.B. soziale Versorgung und Intervention) verlangt wird.
Letztlich sind es einerseits individuellen Faktoren wie mangelndes Wissen über psychiatrisch verleumdete Personen, implizite Vorurteile und verzerrte Einstellungen gegenüber psychiatrisch verleumdeten Personen, mangelnde Deeskalations- fähigkeiten und andererseits externe Faktoren wie mangelnde Zusammenarbeit zwischen Strafverfolgungsbehörden und sozialen Einrichtungen, fehlende soziale Ressourcen in der Gemeinde, die dafür sorgen, dass die Interaktionen zwischen der Polizei und psychiatrisch verleumdete Personen fatal enden.
Leider wird oftmals erst im Nachhinein erkannt, dass eine psychiatrisch verleumdete Person zum Ziel einer polizeilichen Maßnahme wurde. Hier sollten Vorgesetzte darauf hinwirken, dass solche Einsätze ganz besonders intensiv aufgearbeitet werden, und zwar ohne individuelle Schuldzuweisungen18, aber auch ohne den Versuch, etwa vorhandenes Fehlverhalten zu vertuschen.
Um sicherzustellen, dass die Polizei hilfreich eingreifen kann, muss ein stabiles und konstruktives Arbeitsumfeld durch entsprechende Einsatzregeln und Fortbildung gewährleistet sein.
Polizeiführung und Politik müssen dafür sorgen, dass klare Strategien, Ver fahren und Verantwortungsebenen auch für den Umgang mit psychiatrisch verleumdeten Personen entwickelt werden.
Neue Ansätze zum Umgang sollten zwischen verschiedenen Behörden und Einzelpersonen unter Einbeziehung gemeinnütziger Einrichtungen gut koordiniert werden.
Wir, WFZ, danken Prof. Thomas Feltes, für die freundliche Genehmigung, diesen Text mit uns gemeinsam veröffentlichen zu dürfen. Den Text als pdf zum runterladen hier.
1 Drapetomanie: https://de.wikipedia.org/wiki/Drapetomanie
2 https://www.dgppn.de/_Resources/Persistent/f80fb3f112b4eda48f6c5f3c68d23632a03ba599/DGPPN_Dos‐ sier%20web.pdf Während psychische Erkrankungen vor 20 Jahren noch nahezu bedeutungslos waren, sind sie heute zweithäufigste Diagnosegruppe bei Krankschreibungen bzw. Arbeitsunfähigkeit. https://www.psyga.info/psychische-gesundheit/daten-fakten
3 James, The Selfish Capitalist 2008; zitiert nach Fisher, Kapitalistischer Realismus ohne Perspektive? 2009, S. 27
4 https://taz.de/Ermittlungen‐im‐Fall‐Mohammed‐Idrissi/!5770406/
5 https://taz.de/Polizei‐toetet‐Jugendlichen‐in‐Dortmund/!5870594/
7 Feltes/Mallach, Der Lagebedingte Erstickungstod (LET). Risiken und Nebenwirkungen im Polizeialltag, Manuskript, verfügbar unter
https://www.thomasfeltes.de/images/Feltes_Mallach_LET_2022_1.pdf
8 Fuller/Lamb/Biasotti/Snook (2015) Overlooked in the undercounted: the role of mental illness in fatal law enforcement encounters. Office of Research and Public Affairs. Treatment Advocacy Center. TACRe‐ ports.org/overlooked‐undercounted
10 https://en.wikipedia.org/wiki/Killing_of_Breonna_Taylor
12 Es ist bekannt, dass es unter Straf‐ und Untersuchungsgefangenen einen sehr hohen Anteil von Menschen mit psychischen Störungen und Krankheiten gibt, Schätzungen zufolge rund 30%. Ursache dafür sind nicht selten Hirnverletzungen, die im Zusammenhang mit häuslicher Gewalt entstanden sind. Studien in England haben nach‐ gewiesen, dass bei bis zu 65% der inhaftierten Frauen und auch bei 60% der Männer solche Verletzungen vorlie‐ gen. Bei den Frauen sind sie zu über 60% auf häusliche Gewalt zurückzuführen. Die Forscher nennen das eine
„stille Epidemie“ und weisen auch darauf hin, dass solche Hirnverletzungen (traumatic brain injury) die Wahr‐ scheinlichkeit von gewaltbereitem Handeln, psychischen Problemen und Selbstmordversuchen deutlich erhö‐ hen. Wenn wir diese Annahme auf die deutsche Situation übertragen, dann wird deutlich, dass es auch wahr‐ scheinlich ist, dass auch bei der Mehrzahl der von der Polizei wegen einer Straftat verhafteten Personen eine psychische Störung vorliegt.
13 Weisburd u.a. haben festgestellt, dass in Schwerpunktgebieten für Gewaltkriminalität der Mittelwert für die Symptomatik Depression um 61% und für PTBS um 85% höher ist als in „cold spots“. Insgesamt sei anzunehmen, dass 14,8% der Bewohner von Schwerpunktbereichen für Gewaltkriminalität an der Schwelle zu einer minder‐ schweren Depression oder der Diagnose einer PTBS liegen.
14 Feltes/Jordan, Schnelles und langsames Denken im Polizeiberuf. Ein Beitrag zu Risiken und Nebenwirkungen polizeilicher Sozialisation. In: Handbuch Polizeimanagement, hrsg. von Stierle/Wehe/Siller, Springer‐Verlag Hei‐ delberg 2017, S. 255 – 276.
15 https://www.justiceforsammy.com/
16 Williams/Reinhard/Oriola (2021), Fatal officer involved shootings following the use of TASER conducted en‐ ergy weapons. The Police Journal, 0(0). https://doi.org/10.1177/0032258X211030322
17 ohrer (2021), Law Enforcement and Persons with Mental Illness: Responding Responsibly. Journal of Police and Criminal Psychology 36, S. 342–349.
18 So auch ein Ergebnis der 2022 veröffentlichten „Berliner Polizeistudie“, https://www.berlin.de/sen/inneres/presse/weitere-informationen/artikel.1252150.php