Willkür im Recht: Unrecht!
Die ZEIT veröffentlichte am 22. August 2013 einen Artikel von Prof. Thomas Fischer:
Wahn und Willkür
Skandale wie der um Gustl Mollath sind nützlich, weil sie uns zwingen, immer wieder über die Fundamente des Strafrechts nachzudenken
Prof. Wolf-Dieter Narr hat kommentierend geantwortet.
Leider hat die ZEIT diesen Text nicht veröffentlicht. Wir freuen uns, ihn hier präsentieren zu können:
Willkür im Recht: Unrecht!
von Wolf-Dieter Narr
Im Zeit-Dossier der Nr.35/2013 hat Thomas Fischer, der dem 2. Strafsenat des Bundesgerichtshofs vorsitzt, unter der Überschrift „Wahn und Willkür“ klar und deutlich Stellung bezogen.
Den Anstoß gab der Skandal um Gustl Mollath. S i e b e n Jahre wurde dieser im korrespondierenden Doppelpassspiel von Vertretern strafjustizieller und psychiatrischer Instanzen im Maßregelvollzug traktiert. Viel Mühen und Streit unter den strafgerichtlichen Instanzen kostete es, bis er nun im Hochsommer den Weg ins Freie nehmen konnte, mit dem Sieben-Jahres-Packen als verlebtes Mitbringsel.
Thomas Fischer motiviert der „Fall“ Mollath „immer wieder über die Fundamente des Strafrechts nachzudenken.“ Das tut er. Mit gewichtigen Argumenten. Er schließt jedoch mit dem weisen, passiv bleibenden Satz: „Für die“ – skandalträchtigen, d. Verf. – „Regeln sind wir alle verantwortlich.“ Also währen die Skandale geruhsam und gebären neue lernoffene Skandale. Die Opfer danken´s dem Rechtstaat. Nachdrücklicher und verbindlicher gesagt: Müsste der erfahrene Strafrichter nicht eindeutigere Konsequenzen aus vergleichsweise klaren Feststellungen ziehen? Müsste er nicht wie wir alle, die Recht und Berufe, eingebettet in essentielle normative Lebenskürzel des Menschen, die Menschenrechte ernst nehmen, tagaus und tagein, (Un-)Rechte und perverse Institutionen bekämpfen? Deren humanes Ärgernis ist offenkundig. Es ist am „Fall“ Mollath zu verallgemeinern. Darum dürfte diesen Ärgernissen in der Normalität, ja der Normalität, niemand mehr, dem etwas an seinem Beruf liegt und der über begrenzte Macht verfügt, angeblich durch bestehendes Recht (unrechtsvoll) gezwungen zuarbeiten? Wie oft wird in diesem Lande und anderwärts, insbesondere im Gebrauch des Fetisch „Rechtstaat“ mit leerem Pathos vergeblich gesprochen und fahrlässig „Verantwortung“ behauptet?
Ich verkürze aus Platzgründen, pointiere aber korrekt. Ob die deutsches Strafrecht tragende Annahme, die wie so Vieles immer erneut mit Kant legitimiert wird – er spielte die kategorisch abgehobene Posaune wundersam -, mag aktuell dahin gestellt bleiben. Dass nämlich alle Täter, Straftaten „bewusst und gewollt“, „wissentlich und willentlich“ begangen hätten, aus eigener Verantwortung schuldig geworden seien. Deshalb seien die bewussten, allein zurechnungsfähigen Bösewichte für ihre Untaten zur strafenden Verantwortung besten Rechtsgewissens heranzuziehen.
Das gute deutsche (und anderwärtige) Strafgewissen samt seinem haftanstaltreichen Ruhekissen wirkt selbst und gerade dort nur noch bösartig diskriminierend, wo in ihrem Verhalten behinderte Menschen, darum als „Geisteskranke“ misshandelt aus der rechtlich geregelten Normalgesellschaft ausgeschieden werden und mit unrechtem Recht (§ 63 StGB) traktiert werden. Dann können nämlich ihr menschlicher Wille, ihre Empfindung von Schmerzen und ihre Selbstbestimmung insgesamt, durch Heiler und Pfleger, insbesondere die angeblich wissenschaftlich fundierte, also wahrheitsgeadelte Psychiatrie ersetzt werden. Und diese professionelle Ersatz-Hilfe, in der Zwang wie sublim gerechtfertigt wird, wurde bis jüngst in der Bundesrepublik und ihren Ländern weithin akzeptiert. Und wird es in „Alt – und Neufällen“ in psychiatrisch perverser Hilfearroganz immer noch. Die psychiatrische Profession genoss diesen Zwang von der Fixierung bis zur Zwangsbehandlung – mit wenigen Ausnahmen. Sie entlastete die Strafgerichte, kapselte verbreitete Ängste ab – fürchte den „Irren“ wie dich selbst – und nützte vor allem dem Pharmakonsum, seinen Produzenten und seinen Vertreibern.
Dieser heterogenen großen Koalition der Repression als krank erkannter und zugleich als Menschen enteigneter psychisch Behinderter wurde in den letzten Jahren verschiedentlich entgegen getreten. Durch die UN-Behindertenrechtskonvention 2007, 2009 zum Bundesgesetz geworden. Zwischenzeitlich hat die UN noch einmal klar gestellt, dass Zwang in der Psychiatrie Folter gleichkommt. Durch die qualitative Ergänzung des BGB im Sinne eines psychisch Behinderte umschließenden allgemeinen Patientenverfügungsrechts. Durch drei einschlägige Urteile des Bundesverfassungsgerichts 2011 und 2013 in Sachen Zwang im Maßregelvollzug, dem zwei Urteile des Bundesgerichtshofs von 2012 entsprechen. Alle erkennen mit unterschiedlicher Stringenz: dass es den Grund – und Menschenrechten widerspreche, psychisch Behinderte als Menschen nicht gleich zu behandeln. Gäbe es ausnahmsweise Sonderprobleme müssten die mit Hilfe von Formen und Mitteln behandelt werden, die dem einzig kategorischen Gleichheitsgebot aller Menschen entspricht. Dagegen droht nun ein Zwangspanzer ins Rollen zu kommen. An der Spitze brummt das Land Baden-Württemberg und seine Parteien mit Ausnahme der Linkspartei. Sie wollen auf Zwang nicht verzichten, indem sie zugleich die Geschichte Württembergs verleugnen. Das ist übelster, das ist in der Tat menschenrechtlich verrückter Populismus.
Kommen wir zurück zu Richter Thomas Fischer. Was er aus Erfahrung weiß, ist in der Tat wissenschaftlich beweisbar. Dass es der Psychiatrie an allen Grundlagen gewisser Anamnese und Therapie mangelt. Den letzten Beleg dafür gibt das neue, in den USA mit weltweiter Geltung veröffentlichte DSM (= Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders Fifth Edition). Sein guter Kenner Jan Hacking kennzeichnet es u. a. wie folgt: „Wahr ist, dass die meisten Psychiater und andere Kliniker die Kodierung des DSM nicht ernst nehmen. Sie bewältigen damit nur ihre Verwaltung und legitimieren die Pharmaka. .. Schließlich kann das DSM am bestem als absurde Reduktion psychischer Verhaltensprobleme auf eine botanische Klassifikation im Bereich psychischer Behinderungen von Menschen bezeichnet werden.“ (von mir übersetzt)*.
Gleich Thomas Fischer tue ich nicht so, als gäb´ es unter Menschen nicht Verhaltensschwierigkeiten, die nicht mit ein paar Sprüchen gelöst werden können. Kein Verhaltensproblem rechtfertigt aber im Mindesten – und hier ist Richter Fischer nicht konsequent genug -, Menschen qualitativ ungleich, nämlich wie zwei Sorten zu behandeln. Ähnlich dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts in Sachen Flugsicherheitsgesetz 2006, fiele das Menschen- und Menschenrechtshaus in sich zusammen, wenn man seine Fundamente zerstörte. Besondere Fälle verlangen besondere Anstrengungen. Es geht jedoch nicht an, das Fundament der Menschenrechte, die Gleichheit aller zu verrücken. Sondergesetze sind darum ausgeschlossen. Ansonsten ist es höchste Zeit, die professionelle Arroganz der Psychiatrie und ihre Erosion grundrechtlicher Standards, die das Recht erst begründen, auf fachlich bewältigbare Kompetenzen zu begrenzen.
Darum hat das Bundesverfassungsgericht in seinem Verfahren zur Beschwerde von G. Mollah am 26. August 2013 mit triftigen Folgerungen nicht nur hervorgehoben, wie genau, spezifisch, kontextbewusst und aktuell Gefahren herausgearbeitet werden müssten, damit alle, nicht zuletzt gutachterlichen Spekulationen ausgeschlossen würden. Es hat vor allem die besonders eingriffsimmune Qualität, der selbst bestimmten Freiheit und Integrität mehrfach hervorgehoben, die strafrechtliche Befugnisse a la § 63 StGB bis zur tatsächlichen Unkenntlichkeit minimieren.
*Ian Hacking: Lost in the Forest. DSM-5: Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders, in: London Review of Books, Vol. 35 No.15 8 August 2013, pp7/8 .