Das Bundesverfassungs-gericht ist übergeschnappt II
Wie wir schon 2016 kommentiert haben: Das Bundesverfassungsgericht ist übergeschnappt und auch die Taz kommentierte damals, dass das damalige Urteil nicht überzeugt, so macht das BVerfG nun wieder denselben Kardinalfehler: Ein grundgesetzliches Schutzrecht wird bösartig zu einer staatlichen Schutzpflicht verdreht. So urteilt auch der Rechtsanwalt Dr. David Schneider-Addae-Mensah, der bei der Urteilsverkündung heute morgen dabei war:
Kommentar zum Urteil des Bundesverfassungsgericht vom 26.11.2024 zur ambulanten Zwangsbehandlung – 1 BVL 1/24 –
von Dr. David Schneider-Addae-Mensah, Rechtsanwalt, KarlsruheKarlsruhe, 26.11.2024: Das höchste deutsche Gericht hat die Folter in Deutschland ausgeweitet. So muß das Fazit aus dem heutigen Verdikt lauten, das die Bundesrepublik Deutschland einen guten Schritt näher an einen Unrechtsstaat heranführt. Die Worte, die Gerichtspräsident Stephan Harbarth heute mit zittrigen Händen verlas, lassen jeden Menschenrechtler erschaudern.
Nicht der Schutz des Grundgesetzes und die darin enthaltenen unverbrüchlichen Menschen- und Grundrechte waren heute Thema sondern ihre Demontage. Das Bundesverfassungsgericht war sich dabei nicht zu schade unsere Grundrechtsordnung zu pervertieren und Eingriff und Schutz in ihr Gegenteil zu verdrehen.
Eine Zwangsbehandlung ist ohne vernünftigen Zweifel ein Eingriff in das Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit gemäß Artikel 2 Absatz 2 Satz 1 Alternative 2 des Grundgesetzes (BVerfG, Beschluß vom 23.03.2011, 2 BvR 882/09, Rz. 39). Es ist sogar einer der massivsten Eingriffe in dieses Recht, wie der zweite Senat des Gerichts wiederholt entschieden hat (wie vor, Rz. 43 ff.). Je Eingriff desto Schutz; je Eingriff desto Bundesverfassungsgericht, möchte man meinen. Doch der erste Senat des Gerichts machte nun einfach die unterbliebene Zwangsbehandlung zum Eingriff in das Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit. Wie er das begründet, bleibt einem vernünftigen Geist verschlossen. Zwar mag im Ausnahmefall auch eine Schutzpflicht des Staates existieren. Im Bereich medizinischer Eingriffe besteht eine solche jedoch nicht. Eingriffe in die körperliche Unversehrtheit – und hierzu gehören auch nach der Rechtsprechung des Gerichts auch sogenannte Heileingriffe (wie vor, Rz. 40) – bleiben die domaine réservée des Einzelnen. Niemals darf sich der Staat, dürfen sich selbsternannte Helfer über diese Entscheidung erheben, quasi als Herrenmenschen über die gestörten Untermenschen, die ihren Willen behaupteterweise nicht frei bilden können. Diese Mentalität wabert doch immer noch durch deutsche Köpfe und deutsche Gerichtsflure und tritt in solchen Verdikten wie dem heutigen mitunter zutage.
Der Initialfehler der heutigen Entscheidung liegt daher bereits darin, daß es eine Schutzpflicht des Staates im Bereich medizinischer – und erst recht psychiatrischer – Eingriffe nicht gibt. Ist der Einzelne im Einzelfall tatsächlich nicht mehr in der Lage zu handeln und zu entscheiden, so verbleibt es beim Ist-Zustand. Im Zweifel bleibt er unbehandelt. Jeder Mensch hat es selbst in der Hand durch eine Patientenverfügung gezielte Eingriffe im Voraus zu erlauben. Tut er dies nicht, so gibt es in einem Rechtsstaat auch keinen Eingriff! Denn es kann nicht unterstellt werden, daß jemand bei klarem Verstand den Eingriff befürwortet hätte. Überdies ist die Unterscheidung des Gerichts zwischen „natürlichem“ und „freiem Willen“ artifiziell. Wo endet der „natürliche Wille“ und wo beginnt der „freie“? Eine Unterscheidung ist schlechterdings unmöglich. Den gestörten Willen über einen Menschen zu verhängen aber ist genau das oben genannten völkische Vorgehen, bei dem sich einer über den anderen erhebt.
Das heutige Urteil erschreckt aber auch deshalb, weil es sich von den völkerrechtlichen Verpflichtungen der Bundesrepublik Deutschland weiter entfernt. Nicht nur die Worte des seinerzeitigen Sonderbeauftragten der Vereinten Nationen gegen Folter, Juan Ernesto Méndez, von 2013 („health-care settings“, http://mdac.info/sites/mdac.info/files/march_4_torture.pdf, Rz. 11 ff.) bleiben unbeachtet. Auch den Apell der WHO zum Gewaltverzicht in medizinischen Settings (vgl. WHO, Mental health, human rights and legislation Guidance and practice, S. 55) ignoriert das harbarthsche Tribunal.
Der Schluß aus dem heutigen Verdikt kann nur lauten: Patientenverfügung, Patientenverfügung, Patientenverfügung! Zwar bedarf es einer solchen nach der oben vertretenen Ansicht eigentlich gar nicht um nicht einfach behandelt zu werden. Denn was nicht explizit erlaubt ist, ist verboten. Ein medizinischer Eingriff ist stets eine Körperverletzung, die einer besonderen Rechtfertigung bedarf. Doch zwingt der Mißbrauch unserer Grundrechte durch den bundesrepublikanischen Staat und seine Helfersysteme de facto dazu, das Verbotene nochmals expressis verbis zu verbieten. Ort hierfür kann nur die Patientenverfügung sein, die frühzeitig errichtet werden, die konkrete Behandlungssituation bezeichnen und mit einem Geschäftsfähigkeitsattest versehen werden sollte. Das Gericht hat heute, trotz allen Ungemachs, auch betont, daß eine wirksame Patientenverfügung einer Behandlung, ob ambulant oder stationär, in jedem Fall entgegensteht. Diesen Rettungsanker müssen wir zur Rettung unserer Würde und unserer Unversehrtheit nun selbst ergreifen.
Dr. David Schneider-Addae-Mensah
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