Bundesverfassungsgericht befangen?
RA Dr. David Schneider-Addae-Mensah war am 16.7. zusammen mit Matthias Seibt, Martin Lindheimer und René Talbot bei der mündlichen Verhandlung des BVerfG zur Frage der Verfassungskonformität ambulanter Zwangsbehandlung anwesend. RA Dr. David Schneider-Addae-Mensah hat inzwischen diesen ausführlichen Bericht unten verfasst. Die Bundesregierung und deren Bevollmächtigter Prof. Lipp haben ausgezeichnet gegen ambulante Zwangsbehandlung argumentiert, aber der Präsident des Bundesverfassungsgerichts, Stephan Harbarth, hat aus seiner Voreingenommenheit in der Frage keinen Hehl gemacht: Schon zu akzeptieren, das angeblich eine Schutzpflicht des Staates bestünde, die gegen die Person als Grundrechtsträger gewendet werden könne, ist paradox bzw. eine Groteske. Das ist sinnvoll nur durch eine Befangenheit oder einen Interessenkonflikt des Richters Harbarth zu erklären. Soll etwa der Staat den Grundrechtsträger vor der Wahrnehmung seiner Grundfreiheiten schützen? Unterstrichen wurde diese Voreingenommenheit durch Suggestivfragen, aber insbesondere damit, als Harbarth fragte, ob es am Ende sogar zu wenige Zwangsbehandlungen gebe, wenn das Personal bei der Verbringung zögere. Es gibt also seiner Überzeugung nach einen feststehenden Anteil an immer notwendigen Zwangsbehandlungen, die auf alle Fälle durchzuführen sei. Das ist das Gegenteil einer immer beschworenen angeblichen „Ultima Ratio“, sondern die Regel, die von vornherein jenseits menschenrechtlicher, politischer und medizinischer Erwägungen (die WHO fordert die gewaltfreie Psychiatrie!) feststeht – von wegen ergebnisoffene Prüfung, absurd! Im Grunde ist das die alte Erbhygiene. Das führt zu der Vermutung, dass das ganze Verfahren ein Komplott sein könnte, den die CDU/CSU durch die Berufung von Richter Guhling in den BGH und Stephan Harbarth in das BVerfG zur Verbreiterung psychiatrischer Zwangsmaßnahmen geplant hat. Jetzt müssen die anderen 7 Bundesverfassungsrichterinnen und Richter des 1. Senats ihre Unabhängigkeit beweisen, um dieses Massaker an den Grundrechten zu verhindern.
Offener Brief des BPE an den Präsidenten des Bundesverfassungsgerichts
Ausführlicher Bericht in den Kobinet Nachrichten zur Behindertenpolitik
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Bericht über die mündliche Verhandlung vor dem Bundesverfassungsgericht am 16.07.2024 zum Thema „ambulante Zwangsbehandlung“ – 1 BvL 1/24 –
Karlsruhe, 16.07.2024. Der Präsident des Bundesverfassungsgerichts Stephan Harbarth eröffnete die Sitzung als Vorsitzender des ersten Senats und Berichterstatter in vorliegendem Verfahren. Er unterstellte gleich zu Beginn seines Einführungsvortrags eine „staatliche Schutzpflicht“ und damit die Existenz eines Spannungsfelds zwischen Eingriff und Freiheitsrechten. Sodann führte er zu den Einführungsstatements über.
Für die Bundesregierung trug MinDir Ruth Schröder (BMJ) vor, die Bundesregierung sehe keine Schutzlücke. Sie sehe vielmehr die Gefahr einer Ausweitung der Zwangsbehandlung bei auch ambulant möglicher Zwangsbehandlung und für diesen Fall eine Beeinträchtigung des Safe Space. Auch hegte sie Zweifel an der Verhältnismäßigkeit einer ambulanten Zwangsbehandlung. Die gesetzlich beauftragte Evaluierung der Frage ambulanter Zwangsbehandlung sei durchgeführt worden. Das beauftragte Forscherteam habe ebenfalls keine Notwendigkeit für eine ambulante Zwangsbehandlung gesehen. Schröder erwähnte als warnendes Beispiel eines Regimes, in dem ambulante Zwangsbehandlungen erlaubt sind Australien, wo inzwischen 0,1% der Bevölkerung zwangsbehandelt würden.
Harbarth stellte die Frage, ob die Vorlage des Bundesgerichtshofs nicht etwa erweitert werden sollte etwa um die Frage wo alternativ zum Kliniksetting ambulante Zwangsbehandlungen stattfinden könnten. Prof. Dr. Volker Lipp als Bevollmächtigter der Bundesregierung verneinte dies mit dem Hinweis auf zu viele komplexe Fragen, die solch eine Erweiterung der Fragestellung aufwürfe.
Zum Thema Verfassungskonformität führte Lipp aus, daß die rein klinisch zulässige Zwangsbehandlung den Vorteil habe, daß eine doppelte Prüfung der Zulässigkeit sowie des Versuchs, die Zustimmung des Betroffenen für die Behandlung zu erhalten, erfolge. Weiter gebe es im klinischen Setting einen professionellen operativen Rahmen, namentlich zur Nachsorge gegen eine mögliche Traumatisierung des Patienten. Schließlich stehe auch der Schutz der privaten Wohnsphäre einer ambulanten Heimbehandlung entgegen.
Auf Frage des Präsidenten ergänzte Lipp, die Regelung betreffe alle ärztlichen Maßnahmen, inklusive diagnostischer Maßnahmen etwa der Liquorentnahme.
Zum Punkt „empirische Erkenntnisse“ verwies Lipp auf den Evaluationsbericht der Bundesregierung. Prof. Dr. Thomas Pollmächer von der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde (DGPPN) hielt ein stationäres Setting für eine Zwangsbehandlung nicht für zwingend. Dr. Martin Danner von der BAG Selbsthilfe wies auf die defizitäre Datenlage hinsichtlich der Häufigkeit von Zwangsbehandlungen hin und formulierte deshalb Sorge vor ambulanten Zwangsbehandlungen. Kay Lütgens vom Bundesverband der Berufsbetreuer wies darauf hin, daß das Wohnumfeld auch durch eine zwangsweise Wegverbringung des Betroffenen aus seiner Wohnung beeinträchtigt werde. In Einzelfällen könne daher eine Zwangsbehandlung in der eigenen Wohnung weniger belastend sein. Auf Nachfrage des Präsidenten welche Einzelfälle dies seien, ergänzte Lütgens, dies könnten etwa Fälle heimlicher Medikamentengabe sein. Er sagte aber auch, daß Betreuer im Einzelfall gar nicht einschätzen könnten, was für den Betroffenen belastender sei: die stationäre oder die ambulante Zwangsbehandlung.
Auch Pollmächer wies darauf hin, daß die spezifischen Verbringungsrisken einzelfallbezogen seien. Es gebe psychische und physische Risiken. Zu ersteren zähle etwa das Traumatisierungsrisiko im Falle einer Verbringung des Betroffenen ins Krankenhaus. Das Risiko eines Delirs sah er auf Harbaths Nachfrage hier nicht. Ein physisches Risiko stelle die Verletzungsgefahr bei zwangsweiser Verbringung dar, die aber selten sei. Zahlen hierfür gebe es nicht. Er sprach dann von „rationalen“ und „irrationalen“ Gründen einer Ablehnung der Behandlung und nannte als Beispiel für Letzteres die „fehlende Einsicht“ und die Selbstüberschätzung „manischer“ Betroffener. Auf Nachfrage des Verfassungsrichters Christ räumte er ein, es könne auch abzuwägen sein, bei einer besonders traumatischen Verbringung von einer solchen und der Zwangsbehandlung komplett abzusehen. Pollmächer behauptete, Betroffene nach erfolgter Zwangsbehandlung zu der Errichtung einer Patientenverfügung zu ermutigen.
Auf Vorhalt Harbarths aus den Unterlagen ergänzte Pollmächer, daß bei sog. Demenz-Kranken im Falle einer Krankenhausverbringung die Aggravierung des Verwirrtheitszustands, im übrigen auch Krankenhausinfektionen drohten.
Martin Wierzyk vom Bundesverband Psychosoziale Berufe wies darauf hin, daß eine Traumatisierung sowohl durch die Zwangsbehandlung selbst als auch durch eine etwaige Verbringung an einen Zwangsbehandlungsort erfolgen könne. Welcher Faktor der belastendere sei sei nicht eindeutig eruierbar. Die Traumatisierung hänge vom jeweiligen Kontext der Behandlung und der Person des Betroffenen ab. Es gebe keine Erkenntnisse über Spätfolgen und Behandlungsort. Die Risiken eines Hometreatments wögen dessen Nutzen jedenfalls nicht auf.
Lipp wies darauf hin, daß eine Verbringungs-Traumatisierung auch innerhalb der Einrichtung denkbar sei, wenn etwa der Betroffene von einem in ein anderes Zimmer verbracht werde. Harbarth stellte daraufhin eine Suggestivfrage an Pollmächer, ob denn eine Verbringung innerhalb der Institution mit einer Verbringung in ein 50km entfernt liegendes Krankenhaus wohl vergleichbar sei.
Ulrich Langenberg von der Bundesärztekammer sagte, die Belastung des Betroffenen sei im Einzelfall zu ermitteln.
Harbarth fragte, ob es am Ende sogar zu wenige Zwangsbehandlungen gebe, wenn das Personal bei der Verbringung zögere. Darauf erfolgte von René Talbot von die BPE ein Zwischenruf: „Wir sind kein Stück Fleisch!“. Harbarth ermahnte diesen daraufhin. Lipp antwortete Harbarth: Nein, es gebe nicht zu wenige Zwangsbehandlungen, da diese Möglichkeit im stationären Setting ja immer möglich bleibe. Der stationäre Rahmen sei jedenfalls im ambulanten Setting in der Praxis nicht zu erreichen.
Pollmächer führte auf Nachfrage aus, daß es bei sedierender Medikation einer persönlichen Überwachung, möglicherweise auch über mehrere Stunden hin, bedürfe. Wichtig sei vor allem die Nachbereitung, die jedoch auch ambulant erfolgen könne.
Wierzyk wies ergänzend darauf hin, daß bei der Möglichkeit ambulanter Zwangsbehandlungen die Gefahr bestehe, daß alternative zwangspräventive Modelle aus dem Blick geraten.
RiAG Annette Loer vom Betreuungsgerichtstag führte aus, die Verbringung zunächst behandlungsunwilliger Betroffener in eine Klinik habe in vielen Fällen zu deren Zustimmung der Behandlung nach dortiger Ankunft und somit zur Vermeidung einer Zwangsbehandlung geführt. Diese Chance werde bei einer ambulanten Zwangsbehandlung genommen und die Zahl der Zwangsbehandlungen dadurch erhöht. Dies schloß sie, auf Nachfrage des Gerichts, aus der größeren Zahl von Unterbringungen im Verhältnis zur Zahl der Zwangsbehandlungen. Eine unfreiwillige Behandlung widerspreche jedoch den Prinzipien der StÄB (stationsäquivalenten Behandlung).
Nils Greve vom Dachverband Gemeindepsychiatrie mahnte, Zwangsbehandlungen würden einfacher und damit häufiger bei Erlaubtsein einer ambulanten Zwangsbehandlung.
Es wurden dann alternative Durchführungen der Zwangsbehandlung erörtert. Pollmächer wies darauf hin, daß in Deutschland kaum Alternativstrukturen vorhanden seien. Letztlich gebe es keine wesentlichen Unterschiede zwischen einer Verbringung z. B. in eine Arztpraxis und der Verbringung in ein Krankenhaus. Das sah Lipp ebenso.
Zum Punkt Berücksichtigung des „ursprünglich freien Willens“ führte Lipp aus, dieser könne etwa in einer Patientenverfügung manifestiert sein. Hier stelle sich die Frage einer Zwangsbehandlung gar nicht. Auf Nachfrage des Gerichts führte er aus, daß zwar theoretisch denkbar sei, daß ein Betroffener die klinische Zwangsbehandlung in seiner Vorausverfügung ausgeschlossen, eine ambulante aber erlaubt habe. In diesem Fall sei ja aber die ambulante Behandlung gar keine Zwangsbehandlung, da sie nicht gegen den Willen des Betroffenen erfolgt. Harbarth sieht darin gleichwohl, offenbar in Verkennung des Begriffs -Zwangsbehandlung- ein verfassungsrechtliches Problem, ob diesem Betroffenen dann die Behandlung vorenthalten wird.
VRiOLG Joachim Lüblinghoff führte ergänzend aus, daß die Aufklärung über die Medikation inklusive ihrer Alternativen im stationären Setting sicherer sei als im ambulanten. Ihm wäre im ersten Fall wohler.
Bewertung:
Die Mehrzahl der Intervenienten sprachen sich gegen die Möglichkeit einer ambulanten Zwangsbehandlung aus und sahen hierin insbesondere das Risiko der Verletzung des eigenen Wohnumfelds als safe space, Traumatisierungsfolgen im Nahbereich und eine schlechtere Betreuung und Nachsorge des Betroffenen.
Dem ist zuzustimmen. Zwangsbehandlungen sind bereits aus grundsätzlichen Erwägungen verfassungswidrig und verstoßen gegen das Völkerrecht, namentlich gegen die VN-Behindertenrechtskonvention und gegen die VN-Folterkonvention. Überdies gibt es in Deutschland eine Freiheit zur Krankheit und sogar eine Freiheit zum Ableben (BVerfG, Beschluß vom 23.03.2011, 2 BvR 882/09, Rz. 48; Urteil vom 26.02.2020, 2 BvR 2347/15, Rz. 202, 204). Es gibt daher schon nicht den durch Harbarth einfach unterstellen Schutzauftrag des Staates gegenüber Betroffenen. Soll der Staat den Grundrechtsträger vor der Wahrnehmung seiner Grundfreiheiten schützen? Solch ein Schutzauftrag wäre eine Groteske.
Ungeachtet dessen wäre eine Ausweitung der Zwangsbehandlung auf ambulante Settings eine uferlose Ausweitung dieses Vorgehens. Warum Pollmächer ein stationäres Setting nicht für zwingend hält, hat er nicht erläutert und empirisch nicht belegt. Es handelt sich hierbei daher ersichtlich um eine Einzelmeinung. Auch für ein Verbringungsrisiko ins Krankenhaus gibt es keine Zahlen, so daß auch dieses sich letztlich nicht empirisch belegen läßt. Letztlich läßt sich der Grad der Belastung nicht objektiv ermitteln. Daß in Extremfällen von einer Zwangsbehandlung komplett abgesehen werden muß, ist kein Argument für eine ambulante Zwangsbehandlung. Auch diese muß im Extremfall und jedenfalls bei Vorliegen einer Patientenverfügung unterbleiben. Im übrigen wies Pollmächer gerade darauf hin, daß nach erfolgter Zwangsbehandlung mit sedierenden Präparaten eine möglicherweise mehrstündige Anschlußüberwachung notwendig sei. Da fast alle Psychopharmaka stark sedierende Wirkung haben, ist dies bei nahezu allen psychiatrischen Zwangsbehandlungen der Fall. Ambulant kann solch eine Überwachung jedoch de facto nicht erfolgen, da es hierfür an personellen Kapazitäten und der nötigen Infrastruktur außerhalb von Krankenhäusern fehlt.
Harbarths Suggestivfragen und die provokative Frage, ob sogar zu wenige Zwangsbehandlungen „drohten“ zeigen im übrigen die starke Voreingenommenheit des Gerichtspräsidenten in der zu entscheidenden Frage und lassen Zweifel an seiner Geeignetheit für seine aktuelle Funktion aufkommen. Dies gilt auch für die Frage, ob über vorausverfügte Behandlungswünsche im ambulanten Setting eine Änderung des absoluten Verbots der ambulanten Zwangsbehandlung aufgeweicht werden muß. Denn in solchen Fällen liegt ersichtlich keine Zwangsbehandlung vor.
Nach alledem ist die Frage der Verfassungswidrigkeit von § 1906a Absatz 1 Nr. 7 BGB a.F. und § 1832 Absatz 1 Satz 1 Nr. 7 BGB n.F. auch nach dem Ergebnis der heutigen mündlichen Verhandlung zu verneinen.
Dr. David Schneider-Addae-Mensah
Rechtsanwalt, Karlsruhe