Die Festrede

Gert Postel
42 Jahre Irren-Offensive:
Die Festrede

Es ist mir eine Freude und Genugtuung, 17 Jahre nach meiner letzten Festrede zum 25 jährigen Jubiläum der Irren-Offensive eine Rede nun zum 42 Jubiläum halten zu dürfen. Was ich damals über die ersten 25 Jahre gesagt habe, kann man nachlesen [im Film ansehen]. Ich will mich deshalb heute auf diese letzten 17 Jahre konzentrieren.  Auch wenn ich nicht aktiv dabei bin, sondern in Tübingen ein recht beschauliches Leben führe, habe ich beobachten können, welche Erfolge die Irren-Offensive in diesen 17 Jahren seit 2005 erzielen konnte. Als Leser der Rundbriefe des Werner-Fuß-Zentrums möchte ich fünf besondere Erfolge hervorheben, die meines Erachtens die Zwangspsychiatrie ins Mark getroffen haben.

  • Der erste Erfolg war am 1.1.2009 die Ratifizierung der UN-Behindertenrechtskonvention. Ich denke, einen wesentlichen Anstoß für diese Entwicklung gegen die Zwangspsychiatrie auf internationalem Ebene war die Beteiligung der damaligen UN-Hochkommissarin für Menschenrechte, Mary Robinson, am Russell Tribunals zur Frage der Menschenrechte in der Psychiatrie 2001. Ein Jahr davor hatte Hagai Aviel zusammen mit Rene nach ihrer Fahrt zum Symposium aus Anlass des 80. Geburtstags von Thomas Szasz einen Abstecher nach New York gemacht. Wie Rene mir berichtete, wollten sie als Sekretäre des geplanten Russell Tribunals die UN über deren Menschenrechtsabteilung dafür gewinnen, sich am Tribunal zu beteiligen. Das Resultat war dieses Grußwort und damit die Anerkennung und zur Kenntnisnahme des Tribunals durch die UN.
    Im Prozess der Ausarbeitung der Konvention in den folgenden Jahren konnten leider die an der sogenannten „ad hoc“ Gruppe Beteiligten von Psychiatrie-Erfahrenen Seite, namentlich Tina Minkowitz, nicht die explizite Unvereinbarkeit der Zwangspsychiatrie mit den Menschenrechten durchsetzen, aber implizit wurde die Zwangspsychiatrie durch diese Konvention zu einem menschenrechtlich unmöglich noch zu rechtfertigten Verbrechen. Das wurde sogar von der Weltorganisation der Psychiatrie, der WPA dadurch anerkannt, dass sie 2019 in ihrem Journal forderte:  „Die Behindertenrechtskonvention (BRK) zu ignorieren, neu zu interpretieren oder zu ändern“, und auch, dass die psychiatrischen Fachgesellschaften die Regierungen dazu bewegen sollten, „das Übereinkommen zu ignorieren“. Das ist offensichtlich ein neuer Ansatz, da Psychiater sonst immer gegenüber Regierungen opportunistisch und gehorsam sind. Auf einmal hofften Psychiater in der Lage zu sein, das Völkerrecht und nationale Regierungen dirigieren zu können, weil – man beachte die Verschwörungstheorie – “ .. Schuld ist, dass der Entwurf [der BRK] von einigen der radikalsten Elemente der Patientenrechtebewegung übernommen wurde,… „Diese implizite Wirkung der Konvention wurde in den USA wohl verstanden und vermutlich deshalb hat die USA die Konvention auch bis heute nicht ratifiziert. In Deutschland wurde hingegen trotz eines allen Abgeordneten in Ländern und im Bund bekannten  Rechtsgutachtens dieses einfach ignoriert. Stattdessen wurde, um die Behindertenrechtskonvention von vornherein zu beugen, vom Bundestag mit Billigung aller Länder in einer zur Ratifizierung gehörenden sog. „Denkschrift“ ein Wort in die Konvention hinein gelogen, dass in dem Entstehungsprozess explizit ausgeschlossen worden war. Das sich das allerdings rächen sollte, werde ich später erklären.
    Ideologisch war damit der Zwangspsychiatrie das Rückgrat gebrochen, denn sozusagen UN offiziell stand sie auf einmal gegen die Menschenrechte, auch wenn sie sich noch an die staatlich legalisierte Gewalt klammern konnte.  Seither zeigt die Irren-Offensive ständig unwidersprochen ihr Poster Psychiater – staatlich geschützte Verbrecher“.  Das nagt auch an so hart gesottenen Zynikern, wie es Psychiater in der Regel sind.
  • Der zweite Erfolg datiert ebenfalls auf das Jahr 2009, den 1.9., das Patientenverfügungsgesetz § 1901a BGB trat in Kraft. Kräfte aus dem Werner-Fuß-Zentrum waren wesentlich dafür verantwortlich, dass es zustande kam und zwar getragen von einer breiten Mehrheit im Bundestag. Das war ganz und gar nicht selbstverständlich, denn nicht nur erhebliche Teile in der Behindertenbewegung, auch z.B. Prof. Dörner waren auf den Nazi-Trick hereingefallen, damals das Massenmorden als „Euthanasie“ zu bezeichnen. Damit wurde damals versucht, den systematischen ärztlicher Massenmord unter einen euphemistischen Teppich einer Tötung auf Verlangen zu kehren, aus den Morden Selbstmorde zu machen. Es wurde versucht, das zentrale Recht auf Selbstbestimmung, das Recht eines Erwachsenen auf seinen eigenen Körper, in Abrede zu stellen, unter medizinische Oberaufsicht zu stellen, um so die zentrale Legitimationsbehauptung der Psychiatrie unangetastet zu lassen, sie wäre die Verhüterin von Selbsttötungen. An dem Tag, als das Gesetz beschlossen wurde, begann die Werbung für die sog. „PatVerfü„, die sich den Teil des Gesetzes zu Nutze machte, in dem zugestanden wird, dass auch jede medizinische Untersuchung im Vorhinein rechtsverbindlich untersagt werden kann. Sie wird rechtlich zu einer Körperverletzung. Das entscheidende Kriterium für die von der Psychiatrie ausgeübte Gewalt ist die Diagnose einer Geisteskrankheit. Erst diese Diagnose erlaubt wider die Menschenrechte die Sonderbehandlung durch Zwangseinweisung, Zwangsbehandlung und Entmündigung, irreführend „Betreuung“ genannt. Ist die Untersuchung für eine Diagnose untersagt, kann auch keines der psychiatrischen Sondergesetze mehr zur Anwendung gebracht werden. Mag eine PatVerfü  auch nur jeweils individuell als „Opt out“ unterschrieben werden können, so ist die PatVerfü trotzdem ein zentrales Element, um die Zwangspsychiatrie zu ruinieren. Sie zerbricht in den Köpfen derer, die eine PatVerfü unterzeichnen.
  • Dass das Patientenverfügungsgesetz trotz aller Widerstände verabschiedet wurde, das ist zu einem erheblichen Teil der Unterstützung durch Prof. Wolf-Dieter Narr und den Anwälten Thomas Saschenbrecker, Eckart Wähner und Alexander Paetow zu verdanken. Dazu kam 2013 noch David Schneider-Addae-Mensah. Diese 4 Hochschulgeprüften und den einen an der Universität Prüfenden als aktive Unterstützer gewonnen zu haben, war der dritte Erfolg der Irren-Offensive. Sie haben den Spalt vertieft, der schon 1961 durch Michel Foucault und Thomas Szasz im Herrschaftssystem der Universität entstanden war. Bei der Kampagne, um die PatVerfü bekannt zu machen, war dann Nina Hagen die Zeugin in dem 2 Minuten Video als Kino-Vorfilm und im Internet. Sie ist als Schirmfrau der PatVerfü eine besonders starke Stütze.
  • Als vierten Erfolg möchte ich bezeichnen, dass 2 Sonderberichterstatter über Folter des UN-Hochkommissariats für Menschenrechte, Juan Méndez und Nils Melzer Zwangsbehandlung in der Psychiatrie zu Folter, bzw. grausamer, unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung erklärt haben. 2013 und 2020 berichten sie das dem UN-Menschenrechtsrat und daraus ist das Bündnis gegen Folter in der Psychiatrie entstanden. Unter den Erstunterzeichnern war Prof. Manfred Nowak, der vor Juan Méndez ebenfalls Sonderberichterstatter über Folter des UN-Hochkommissariats für Menschenrechte war.
    Vielleicht noch nicht genug wurde bekannt, dass auch Papst Franziskus in einer bemerkenswerten Rede am 23.10.2014 darauf hingewiesen hat, dass  nicht nur in geheimen Internierungs- oder modernen Konzentrationslagern, sondern auch in psychiatrischen Kliniken und anderen Strafanstalten gefoltert wird. Die Delegitimierung der Zwangspsychiatrie als menschenrechtswidrige Strafanstalt ist also umfassend.
  • Als fünften Erfolg des beständigen Trommelns gegen die Zwangspsychiatrie möchte ich die Veröffentlichung des Beschlusses der Deutschen Gesellschaft für soziale Psychiatrie am 1. März dieses Jahres nennen, der Beschluss, dass die §§ 20, 21, 63 und 64 aus dem Strafgesetzbuch gestrichen werden sollen. Damit ist dem Reket, dem wie bei einem Tennisschläger gespannten Geflecht der Ärzte, Richter und Betreuer der Zwangspsychiatrie ein wesentlicher Teil weggebrochen. Die moralische Erschütterung, die, wie vorhin erwähnt, an den Zynikern der Zwangspsychiatrie nagt, hat bei deren sensibelsten Teil, der organisierten Sozialpsychiatrie, zu einer Wende geführt. Für den Bereich des Maßregelvollzugs ist sie zu einem Verbündeten der Irren-Offensive geworden. Dieser Verlust lässt das restliche Reket kraft – und spannungslos wie einen demolierten Tennisschläger zurück.
    Dieser Erfolg muss noch mit der Abschaffung der entsprechenden Gesetze umgesetzt werden, aber ich bin da ganz zuversichtlich, dass auch das noch gelingt.

Kurz zusammengefasst: die Unbeugsamkeit gepaart mit Geduld und Ausdauer, ja Zähigkeit der Irren-Offensive ist beispielhaft.