Therapeutische Staat will sich weiter ausbreiten
Die Krake „Zwangspsychiatrie“
von Dr. Ulrich Lewe
1. Eine Gesetzesänderung läuft ins Leere
Im Jahr 2016 wurden durch Änderungen am § 67 StGB eine Verschärfung der Verhältnismäßigkeitskriterien vor allem nach sechs- oder zehnjähriger Aufenthaltsdauer vorgenommen. Absicht war, den Anstieg der Zahl der Untergebrachten nach § 63 StGB zu beenden. Was dann passierte, lässt sich dem Kerndatensatz für den Maßregelvollzug entnehmen.
Zunächst sinkt, wie vom Gesetzgeber beabsichtigt, die Zahl der Untergebrachten von 5734 (2016) auf 5397 (2019), um dann wieder kontinuierlich auf 5798 (2021) anzusteigen und damit das Niveau von 2016 zu übertreffen. (Alle Zahlen ohne Bayern und Baden Württemberg)
Wie kann das passieren?
Relativ einfach, indem das MRV-System (Rechtssprechung und Psychiatrie/Gutachter) einfach mehr vorläufig Untergebrachte nach § 126a StPO produziert und somit den Nachschub sichert. Im Bereich des Landschaftsverbandes Westfalen Lippe stieg beispielsweise die Zahl der vorläufig Untergebrachten von 110 (2016) auf 175 (2021) an.
Es ist, als ob das MRV-System nach einem ersten Schock dem Gesetzgeber den Stinkefinger zeigt und sagt, „du kannst mich mal“ und im übrigen ein Beleg für die These von Heinz Kammeier, dass ein juristisches Herumbosseln am MRV-System nichts bringt.
2. Der Strafvollzug zieht nach
Ziemlich unbemerkt von einer größeren (Fach-)Öffentlichkeit hat der Gesetzgeber zum 01.10.2023 die Möglichkeit von psychiatrischen, psychotherapeutischen und soziotherapeutischen Therapieweisungen in das Strafgesetzbuch (§ 56c StGB) und die Strafprozessordnung (§ 153a StPO) eingebaut.
Beide Weisungsmöglichkeiten haben mehr oder weniger starken Zwangscharakter. Denn: Wer Weisungen nach § 56c StGB nicht nachkommt, hat Sanktionen zu erwarten, die von einer Geld- bis zu einer dreijährigen Freiheitsstrafe reichen (§ 68b StGB).
Und Weisungen nach §153a StPO (Aussetzung des Verfahrens aus Opportunitätsgründen) stehen unter der Androhung, dass bei Nichteinhaltung das Strafverfahren von der Staatsanwaltschaft wieder eröffnet wird.
Im Unterschied zum Maßregelvollzug gelten diese Regelungen für Menschen im Strafvollzug, deren Straftat in keinem Zusammenhang mit ihrer psychosoziale Behinderung steht.
M.a.W., wenn ein Strafhäftling durch die Haft psychisch erkrankt, kann er zu einer ambulanten Zwangstherapie verdonnert werden. Wenn er diese nicht wahrnimmt, drohen ihm eine Geld- oder Haftstrafe bis zu drei Jahren.
Das finde ich – mal unjuristisch ausgedrückt, pervers und frage mich, wie solche Gesetzesänderungen im Jahre 14 nach Einführung der UN-BRK in Deutschland stattfinden können.
Fazit: Der stationäre Maßregelvollzug nach § 63 StGB wächst ungebremst. Die ambulante Zwangsbehandlung ist hier seit langem die Regel. Seit dem 01.10.2023 ist sie auch für Menschen mit psychosozialen Problemen im Strafvollzug vorgesehen. Damit wird erstmals eine ambulanten Zwangstherapie für Menschen ermöglicht, deren Erkrankung in keinem Zusammenhang mit ihrem Delikt steht.
3. Türöffner für ambulante Zwangsbehandlung in der Allgemeinpsychiatrie
Die Tagung in Zwiefalten am 10.10.2023 zum Thema „Ambulante Behand lungsweisung“ hat gezeigt, dass es starke Kräfte in Politik und Psychiatrie gibt, die diese Vorlage aus dem Strafvollzug dankbar aufnehmen.
Das Land Baden-Württemberg mag hier aktuell der Vorreiter sein, aber das Thema ist schon seit längerer Zeit auch in anderen Bundesländern virulent. Dabei werden neben der ambulanten Zwangstherapie unter dem Stichwort „Deliktprävention“ umfangreiche Sicherheitschecks/Forensische Gutachten in der Allgemeinpsychiatrie im Vorfeld noch gar nicht stattgefundener Straftaten von propagiert. So empfahl 2019 die Gutachterin N. Saimeh in der Sicherheitskommission des Landes NRW, vor der Entlassung potentiell gefährlicher Patienten forensische Gutachter hinzuzuziehen – d.h., dass eine Klinik für Allgemeinpsychiatrie eine Entlassung nicht von ärztlich/therapeutischen Erwägungen abhängig macht, sondern von der Gefährlichkeitsprognose forensischer Gutachter. Abgesehen davon, dass sie bei der geringen Basisrate für Gewaltdelikte von psychisch Erkrankten in Kauf nimmt, für eine richtig positiven Feststellung 1000 Menschen zu Unrecht als gefährlich zu denunzieren, bedeutete dies im Nebeneffekt, dass sich die Allgemeinpsychiatrie sowohl im stationären wie im ambulanten Bereich zu einer Stigmatisierungsmaschine für psychosozial behinderte Menschen entwickelt.
Dass sich ebenso offensichtlich niemand dafür interessiert, dass diese Menschengruppe sehr viel häufiger Opfer von Gewalttaten wird als die Allgemeinbevölkerung, scheint keinen Experten zu interessieren. Hier präventiv tätig zu werden, ist allemal besser als unter dem gerade politisch opportunen Stichwort vom „Gefährder“ Menschen regelhaft zu diskriminieren.
4. Kurzer Rück- und Ausblick
Mich erinnert diese Entwicklung an die Psychiatrie zu Ende der Weimarer Republik, als sie sich erfolgreich anmaßte, unter dem Stichwort vom „nutzlosen Schmarotzer“ am Volkskörper, ihren eigenen Gewaltbeitrag zur Lösung der sozialen Frage dem deutschen Fascho-Regime anzudienen. Nur das heute der „Schmarotzer“ durch den „Gefährder“ ersetzt ist.
Ziemlich in Sorge
U. Lewe
(Belege und Literatur beim Verfasser)