Prinzhorns Buch: vor 100 Jahren veröffentlicht

Autoritärer Revisionismus in der Heidelberger Psychiatrie,
das Erbe von Hans Prinzhorn und Carl Schneider

Wie die Reaktion eines Psychiaters auf die Dada-Ausstellungen im Ersten Weltkrieg zu den medizinisch begründeten Massenmorden der Nazis im Zweiten Weltkrieg führte. Die wahre Geschichte der berüchtigten „Prinzhorn“-Sammlung in der Heidelberger Universität und der Zweck, dem sie diente.
Von Hagai Aviel  und René Talbot

Vorwort 
Hundert Jahre ist es nun her, dass Hans Prinzhorn 1922 sein Buch „Bildnerei der Geisteskranken“ veröffentlichte. Höchste Zeit also, eine Bilanz zu ziehen, welche Spur der Zerstörung dieses Konzept der Medizinalisierung bzw. Pathologisierung von Kunstwerken hinterlassen hat. Die hegemoniale Erzählung besagt, dass die geisteskranke „Outsider-Kunst“ von diesem deutschen Psychiater entdeckt wurde, der die Werke in der Heidelberger Universitätsklinik, für die er arbeitete, sammelte und ihre Existenz in diesem angeblich bahnbrechenden Buch veröffentlichte, das sie und ihren Einfluss in der Welt bekannt machte.
Als wir auf eine aktuelle Version dieses Klischees stießen, die von dem Guardian-Journalisten Charlie English geschrieben wurde, beschlossen wir in der International Association Against Psychiatric Assault, dass es an der Zeit ist, eine andere Sichtweise dieses Ereignisses zu veröffentlichen, die sowohl auf der Kenntnis der Fakten und der Chronologie beruht als auch darauf abzielt, den Opfern ihre Menschenwürde zurückzugeben.
Wir widersprechen der Mystifizierung von „Kunst und Wahnsinn“, indem wir die Bedeutung von Hans Prinzhorn für das NS-spezifische Konzept der „entarteten Kunst“ aufzeigen. Prinzhorn war ein ideologischer Wegbereiter für den systematischen medizinischen Massenmords (der wiederum ein wichtiger Entwicklungsschritt zur Shoah war).

Im 1. Weltkrieg fand 1916 die erste Dada-Ausstellung in der Schweiz statt. „Die erste große Anti-Kunst-Bewegung, der Dadaismus oder Dada, war eine Revolte gegen die Kultur und die Werte, die das Blutbad des Ersten Weltkriegs verursacht hatten. Die Bewegung entwickelte sich schnell zu einer anarchistischen Form der avantgardistischen Kunst, deren Ziel es war, das Wertesystem der herrschenden Organisation, die den Krieg zugelassen hatte, zu untergraben, einschließlich der Kunstinstitution, die sie als untrennbar mit dem gesellschaftspolitischen Status quo verbunden ansahen.“1 Mehrere der Aussteller: Hans Arp, Hans Richter, Walter Serner, Ferdinand Hardekopf steuerten Werke bei, während sie sich in der psychiatrischen Heilanstalt Kilchberg aufhielten.2 Natürlich kann man behaupten, dass sie „geisteskrank“ waren,3 aber man darf auch nicht vergessen, dass mehrere von ihnen keine Schweizer Bürger waren und der Aufenthalt in einer psychiatrischen Anstalt ihnen Asyl vor der Rückkehr in ihre Länder und einer gewiss zwangsweisen Einberufung bot.

Der Hintergrund der Dada-Ausstellungen und vielleicht auch anderer neuer Kunstbewegungen in den ersten Jahren des 20. Jahrhunderts [Kubismus, Futurismus, Negerkunst usw.4 ] ist der Grund für die Reaktion des autoritären Heidelberger Revisionismus in Form des Prinzhorn-Buches, eine Reaktion, die die in der psychiatrischen Abteilung der Universität Heidelberg erworbene Sammlung durch die diagnostische Verleumdung der Autoren der Werke in klinisch-psychiatrischer Hinsicht definiert.
Dies ist eine diagnostische Verleumdung der Autoren der Werke in klinisch-psychiatrischer Hinsicht. Prinzhorn schrieb 1919 einen Brief, in dem er alle Anstalten aufforderte, ihm die von ihren Insassen geschaffenen Werke zuzusenden. Damit nutzte er die in psychiatrischen Anstalten in ganz Deutschland, auch in Heidelberg, übliche Praxis, dass Psychiater diese Werke in Besitz nahmen und sie als klinische Beweise zur Untermauerung ihrer psychiatrischen Diagnosen in die Krankenakte aufnahmen. Dies war vergleichbar mit der Plünderung durch die Kolonialherren. Prinzhorn sammelte diese Werke nicht nur illegal5 (d. h. er kaufte/bezahlte sie NICHT) für ein „Museum für pathologische Kunst“6 oder „sein ersehntes Museum für pathologische Kunst“7 , sondern betrachtete sie auch NICHT als Kunstwerke. Charlie English schreibt darüber, aber noch deutlicher wird es in dem klinischen Begriff, den Prinzhorn dem Titel seines Buches gibt: „Bildnerei“. Er bedeutet so viel wie „Bildprodukte“.

Die Konsequenzen: 
A) Dass die Entwicklung des Dadaismus einen tiefgreifenden Einfluss auf die deutsche Kunst und Lyrik in den 1910er und 1920er Jahren hatte, lässt nur einen Schluss zu: Der Dadaismus war eine echte Herausforderung für die Kunst und insbesondere die Poesie des 20. Jahrhunderts, da er sich gegen die traditionellen Stile und Werte richtete, die für die traditionelle Kunst und Poesie in der gesellschaftliche Ordnung charakteristisch waren8, auch wenn die Dadaisten nur etwa ein Jahrzehnt lang experimentierten. Gleichwohl sind die Dadaistische Einflüsse in den literarischen Bewegungen des 20. Jahrhundert noch lange bemerkbar.

Gegen diese Einreißen traditioneller Grenzen setzte die Heidelberger Universitätspsychiatrie mit Hans Prinzhorns Sammlung „Bildnerei der Geisteskranken“ die Pathologisierung der Kunst durch die medizinische Verurteilung der Kunstschaffenden als „Geisteskranke“ auf der Grundlage psychiatrischer Diagnosen. Die Kunst wurde also nicht mehr nach dem Werk, sondern nach dem vermeintlich kranken Geisteszustand der Künstler beurteilt oder besser gesagt verurteilt. Wir bezeichnen das als Autoritären Revisionismus. Die Universität Heidelberg machte sich schuldig, auf die Befreiung der Kunst durch den Dadaismus mit diesem autoritären Revisionismus reagiert zu haben und damit diesen bahnbrechenden Schritt für die modernisierende Kunst des 20. Jahrhunderts zu revidieren. Von der „Katherale der Vernunft“ – der Universität und ihrer Psychiatrie – ging die Initiative aus, Kunst als Krankheit zu verleumden, indem sie dem Wahnsinn von Geisteskranken zugeordnet wurde. Diese Schuld hält bis heute9 an, denn Künstler werden nach wie vor als „Künstler, die anders sind“ diskriminiert10, wenn sie aus Heimen und psychiatrischen Anstalten kommen oder dort bereits interniert waren. Wilmanns und Prinzhorn beabsichtigen mit den in psychiatrischen Anstalten bösgläubig erworbenen Kunstwerken, d.h. mit Raubkunst, in Heidelberg das psychopathologisches Museum zu etablieren, das am 13.9.2001 eröffnet wurde.11

„..wenn nicht der Führer Einhalt geboten hätte“12  
B) Diese Grundstruktur wurde im nächsten Schritt ab 1933 weiter entwickelt: Aus „krank“ wurde „entartet“. Im Deutschen hat das Wort durch den prägenden Wortteil „art“ eine besondere, in anderen Sprachen regelmäßig nicht verstandene Bedeutung. Eine Art ist eine biologische Grundeinheit. Mit dieser demagogisch geschickten Wortwahl wurde nicht nur Krankheit (innerhalb der Gruppe des Homo sapiens) begrifflich gefasst, sondern eine Grenze zum Menschen als solchem gezogen. Diese Bedeutung kann nur als eine Gattungsgrenze verstanden werden, bei der die Ausgeschlossenen zu so etwas wie sich bewegendes Fleisch entwürdigt wurden. Das moralisch zentrale Verbot des Mordes war damit gefallen.
Es markiert die ideologische Vorbereitung der exterministischen Ausgrenzung, zunächst durch Zwangssterilisation und Heiratsverbote, dann ab 1939/40 durch den Mord in der Gaskammer, der 1942 in die Gasmordfabriken im besetzten Polen exportiert wurde. Ab 1941 wurden die zentral organisierten Morde direkt in die psychiatrischen Gefängnisse verlegt und durch Todhungern lassen bis 1948/49 fortgesetzt.13

C) Die logische Konsequenz dieser radikalen Ausgrenzung sprach dann Carl Schneider, der Nachfolger von Karl Wilmanns als Chefarzt der Heidelberger Universitäts-Psychiatrie ganz offen aus. In seinem 1939 vom Archiv für Psychiatrie und Nervenkrankheiten veröffentlichten Vortrag beschrieb er die Absicht, dass die moderne Kunst und die Urheber dieser Kunst das gleiche Schicksal ereilen sollte, wie er es kurz danach bei den Geisteskranken exekutierte, also deren Ermordung. Wie bei den Geisteskranken würde er diese vorher auswählen, exlizit erwähnt wurde Otto Dix. Dann hätte er sie genauso ermorden lassen, um nach der Ermordung deren Gehirne zu sezieren und sie als Exponate seinen Studenten im Hörsaal der Universitätspsychiatrie präsentieren zu können, genau dort , wo heute die sogenannte „Sammlung Prinzhorn“ zur Verhöhnung ihrer Opfer gezeigt wird, um die Hegemonie und diagnostische Kraft der Psychiatrie zu demonstrieren.

D) Mit dieser ideologischen Grundstruktur wurde nach 1949 nicht gebrochen, sondern nur das Morden hörte auf. Sie setzte sich in „Kunst und Wahn“ unverändert fort und ist nach wie vor Grundlage von Ausstellungen wie z.B. 2005 in der „Biennale meine Welt“ des Museums Junge Kunst in Frankfurt-Oder.14
Dass Charlie English für sein Buch „The Gallery if Miracles and Madness“ aktiv mit der Sammlung Prinzhorn zusammen arbeitete, kann dann nicht mehr überraschen, zumal er den vierten Teil seines Buches mit „Euthanasia“ betitelt, eben jenem Wort, das in der Sprache der Ärzte-Nazis zur Vertuschung des Mordens verwendet wurde und auf dessen nicht weitere Verwendung wir als wichtigste Forderung seit der Veröffentlichung am 17.2.2009 unermüdlich hingewiesen haben:15

Helfen Sie, die perfekten Nazi-Morde dadurch imperfekt zu machen, dass…
1. …der Nazi-Jargon „Euthanasie“ (= ärztlich-assistierter Suizid) aus dem Sprachgebrauch verbannt wird, wenn damit der systematische ärztliche Massenmord von 1939 bis 1949 gemeint ist. Die Nazis haben das Wort „Euthanasie“ gebraucht, um zynisch zu unterstellen, dass es die Opfer selber waren, die ihren Tod gewünscht hätten. Wenn Sie diesen Begriff benutzen, werden die Opfer noch einmal – JETZT – entwürdigt. Wenn Sie dieses Wort für den systematischen ärztlichen Massenmord von 1939 bis 1949 benutzen, helfen Sie, Ärzte-Nazi-Ideologie zu reproduzieren, bringen Solidarität mit den Tätern zum Ausdruck und beteiligen sich am Versuch der Vertuschung von deren Schuld.

Fazit: 
Wir vermissen bis heute eine Solidaritätsbekundung der Kunstwelt mit den verfolgten Künstlern in der Psychiatrie. So steht von Seiten der Kunst bis heute der Schritt aus, sich mit den verfolgten Künstlern in der Psychiatrie zu solidarisieren. Hingegen waren die Pariser Studenten vorbildlich, als sie 1968 in Solidarität gegen die Ausweisung von Daniel Cohn-Bendit durch die De-Gaule-Regierung mit dem Slogan demonstrierten: Wir sind alle deutsche Juden.
Das fehlt, denn auch Lucy Wasensteiners 2019 erschienenes Buch The Twentieth Century German Art Exhibition: Answering Degenerate Art in 1930s London16 über die Londoner Ausstellung von 1939 lässt genau diesen Punkt vermissen. Auch hier wird nur auf die „ordentliche“ Kunst der damaligen Zeit verwiesen, während die Kunst der angeblich „Verrückten und Geisteskranken“ weiter diskriminierend unerwähnt bleibt, obwohl sie gleichzeitig von Mord und Totschlag bedroht waren, bzw. verfolgt, eingesperrt und misshandelt wurden.

Als eine Möglichkeit, gegen diese andauernde Diskriminierung vor zu gehen und den Mythos von Kunst und Wahn endlich zu brechen, schlagen wir, IAAPA, eine Ausstellung an einem prominenten Ort vor, nur mit Kunstwerken von Autoren vor, deren Namen nicht bekannt werden. Eine wilde Mischung von Autoren, die in der Zwangspsychiatrie unterdrückt wurden, und von Psychiatern.
Denn entweder bricht die Moderne, wie Dada, mit den Grenzen von Konventionalität und Normalität in der Kunst, auch der Anti-Kunst, und hebt diese Grenzen auf, oder sie hält an der Vorstellung fest, dass sich „Geisteskrankheit“ in „Bildnerei“ zeigen könne – Prinzhorns Wortwahl – das die Werke der in den Psychiatrien Eingesperrten und Verleumdeten von der Kunst ausschließt.

Und selbstverständlich muss endlich die Sammlung der Beutekunst im Hörsaal der Mörder in Heidelberger aus den medizinischen Fängen der Psychiatrie befreit und in ein „Haus des Eigensinns“ überführt werden, bis sie ihren rechtmäßigen Besitzern, den Erben der Autoren, übergeben werden kann.17

© Hagai Aviel, Tel Aviv, Israel, avielhagai@gmail.com
© René Talbot, Berlin, Germany, r.talbot@berlin.de
Englische Version hier: https://www.iaapa.de/revisionism.htm

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1  https://www.daskreativeuniversum.de/dadaismus-dada-merkmale
2 https://www.sanatorium-kilchberg.ch/site/assets/files/1603/rueckblick_dada_ich_und_ueber_m_ich_23_06_16.pdf
3  Nach eigenem Bekunden war Hans Richter für den Rest seines Lebens dankbar dafür, dass er mit der psychiatrischen Krankheit „jugendlicher Schwachsinn“ medizinisch verleumdet wurde!
4  All die Kunstbewegungen, die so im Vortrag von Carl Schneider mehrfach erwähnt wurden.
5  Gutachten Prof. Peter Raue: https://www.dissidentart.de/eigensinn/ungekuerztergutachten.htm
6  Das zitiert Charlie English in The Gallery of Miracles and Madness auf Seite 25 aus Hans Prinzhorns Rundbrief vom Juni 1919 und
7  The Gallery of Miracles and Madness von Charlie English, Seite 43
8  Siehe z.B. Kurt Schwitters „Sonate in Urlauten“: https://www.dissidentenfunk.de/archiv/s0504/audio/lo/t04.mp3
sowie: https://youtu.be/l8OzOUGe5f8 und https://youtu.be/1qLKu3R8no4
und Dadaism and German Poetry essay https://www.proessay.com/dadaism-and-german-poetry-essay
9  Wir haben das durch die unter Protest verlassene Vernissage der „Biennale meine Welt“ in Frankfurt-Oder dokumentiert: https://youtu.be/0lMauyX51z4?t=1635  Text der Protest-Rede hier: https://www.die-bpe.de/biennale_meine_welt.htm
10  Siehe Video der Eröffnung der Ausstellung „Bennale meine Welt“ am 13.3.2005: https://youtu.be/0lMauyX51z4?t=1636
11  https://web.archive.org/web/20170509215044/http://www.autonomes-zentrum.org/ai/prinzhornprotest.html
12  Zitat aus „Entartete Kunst und Irrenkunst“, Rede des Chefarztes der Heidelberger Universitätspsychiatrie Carl Schneider, der Nachfolger von Wilmanns als Leiter der Psychiatrischen Klinik in Heidelberg und dessen Sammlungsleiter Hans Prinzhorn, gehalten am 19. März 1939 ist, veröffentlicht in Archiv für Psychiatrie Und Nervenkrankheiten, 1939 – Springer https://link.springer.com/article/10.1007/BF01814830
In der Rede bezieht er sich unter Anderem auf die Malerei von Otto Dix, aber auch auf Texte von Schwitters. Entartete Künstler und psychisch kranke Künstler hätten gemeinsam, dass sie von der Arbeit befreit seien und ihre Arbeit von Kommunisten und Juden gefördert wird und das gefährdet die nordischen wahren Künstler. Dann berichtet er von seinen berühmt berüchtigten Erkenntnissen aus der Arbeitstherapie (wofür ihn auch Klaus Dörner in Klassische Texte neu gelesen, in Psychiatrische Praxis 13 (1986), S. 112-114 so verehrt: Carl Schneider, „der wissenschaftstheoretisch im 20. Jahrhundert kaum zu überbietende Theoretiker…“). Man kann den schizophrenen Künstler durch entsprechende medizinische Betreuung dazu bringen, dass er normale Arbeiten produziert – indem man seine Werke zerstört und ihn zu einem normalen Beruf führt. Der vollständige Text der Rede ist hier dokumentiert: https://link.springer.com/article/10.1007/BF01814830. Eine Übersetzung ins Englische ist hier dokumentiert: https://www.iaapa.de/schneiders_speech.pdf
13  Heinz Faulstich, Hungersterben in der Psychiatrie 1914-1949
14  Siehe Video der Eröffnung der Ausstellung: https://youtu.be/0lMauyX51z4?t=1636
15  https://www.iaapa.de/8_demands.htm und https://www.iaapa.de/8_demands.htm#dt
16  https://www.amazon.com/Twentieth-Exhibition-Routledge-Research-Exhibitions/dp/1032094605
17  Siehe die 7. Forderung: http://www.iaapa.de/8_demands.htm#dt