Kommentar zur erfolgreichen Verfassungsbeschwerde
Über den neuesten Beschluss des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) zur Einschränkung der Zwangspsychiatrie 2 BvR 1866/17 und 2 BvR 1314/181 wurde sogar in der Tagesschau berichtet.
Was ist für uns (Werner-Fuß-Zentrum und Befreundete) das Besondere und Wichtige an dieser Entscheidung?
Zunächst möchten wir betonen, das BVerfG hat am 8.6.2021 den Beschluss gefasst, dass die PatVerfü® sogar bei den staatlich testierten, schuld-unfähigen Gefährdern an sich, den Langzeitgefangenen in einer Forensik, gilt und beachtet werden muss. Damit hat das BVerfG entweder den Abgesang an die Forensik angestimmt (was super wäre, aber etwas unwahrscheinlich ist), oder wie Rechtsanwalt Dr. David Schneider-Addae-Mensah es ausgedrückt hat, der PatVerfü den Status eines jus cogens zuerkannt. (Eine ganz ausführliche rechtsdogmatische Erklärung und Herleitung zum damit höchstrichtlich bestätigten Recht auf Krankheit befindet sich hier.)
Zum Verständnis:
Mit § 63 StGB wird ein/e Straftäter:in zwar als schuldunfähig abgeurteilt, aber auf unbefristete Zeit in der Forensik eingesperrt. Ihre Rechtfertigung soll diese drakonische Strafe wider alle sonst üblichen Normen des Strafvollzugs (Aussicht auf vorzeitige Entlassung, Resozialisierung usw.) dadurch erhalten, dass Psychiater:innen eine Person als an sich „gefährlich“ abgeurteilt haben. Deren „Hang“ zu Straftaten sei unkontrolliert, eigentlich sogar immer unkontrollierbar. Sie müssten deshalb bis zum Beweis des Gegenteils (der logischerweise unbeweisbaren Ungefährlichkeit) zum gefährlichen Geistes“kranken“ an sich befördert und eingesperrt werden. Der unendlichen Weisheit psychiatrischer Wissenschaft unterworfen, könnte es eine Hoffnung auf „Heilung“ nur dann geben, wenn diese Unterwerfung total sei und die Krankheitseinsicht des Geistes“kranken“ den Herrschenden in der Forensik glaubhaft erscheint. Ist sie es nicht, kann die Gilde jederzeit mit der Diagnose „vorgetäuschte Krankheitseinsicht“ oder „gute Fassade“ (eine Normalitätssimulation, die für verrückt erklärt werden kann) jede Entlassungsperspektive nichten. Es ist also eine typische Catch-22 Situation und die Einsperrung regelmäßig jenseits jeder Verhältnismäßigkeit zur Straftat. Und: wider die in der BRD ratifizierte, also eigentlich Gesetz gewordene, UN-Behindertenrechtskonvention. Die ärztlich diagnostizierte und staatlich-richterlich zertifizierte permanente Gefährlichkeit einer/s Geistes“kranken“ ist die juristische Rechtfertigung bzw. hinreichende Begründung für dieses Sonderopfer (so wird das tatsächlich von Juristen bezeichnet) der Gefangenen in der Forensik.
Gegen jede psychiatrische Diagnose und jeden Behandlungsversuch ohne die explizite Zustimmung der Betroffenen steht die Patientenverfügung PatVerfü, um die es in diesem Verfahren ging. Die Möglichkeit des Verbots der Diagnose und Behandlung steht im Gesetz § 1901a BGB. Unserer Ansicht nach ist jedes Gesetz zur psychiatrischen Zwangsbehandlung illegal, weil es gegen das als „jus cogens“ erkannte Folterverbot verstößt. 2016 war diese Verfassungsbeschwerde gegen die von den unteren Gerichten genehmigte Zwangsbehandlung eines Gefangenen in der Forensik zwar angenommen, aber noch nicht entschieden worden. Wir hatten daraufhin dem BVerfG den Beweis dafür zugesandt, dass ein entsprechendes Gesetz, das die Duldung der Zwangsbehandlung erzwingt, an sich illegal ist, und hier veröffentlicht: https://www.irrenoffensive.de/beweis.htm. Der Beweis ist auch die logisch zwingende Herleitung, warum die Entscheidung des BVerfG von 2011 falsch war, in der vom BVerfG behauptet wurde, Zwangsbehandlung könne dann gesetzlich normiert werden, wenn die Einwilligungsfähigkeit „krankheitsbedingt“ fehlen würde: So ein Gesetz verstößt gegen jus cogens, in diesem Fall das Folterverbot. Diesen Beweis hatte das BVerfG nun berücksichtigen müssen bzw. eingesehen, dass er zutrifft. Allerdings wird in dem Beweis eine Unterscheidung getroffen zwischen Menschen, die
A) psychische Krankheit zumindest für wahrscheinlich halten, daran glauben oder von deren Existenz überzeugt sind, und
B) Menschen, die psychische Krankheit weder für wahrscheinlich halten, noch daran glauben, noch von deren Existenz überzeugt sind.
Nur Menschen der Gruppe A) können also einwilligungsfähig bzw. „krankheits“bedingt einwilligungsunfähig sein – aus welchen Gründen auch immer. Hingegen können Menschen der Gruppe B) – bei Bewusstsein – unter keinen Umständen in eine Behandlung einer ihrer Überzeugung nach nicht existierenden Krankheit einwilligen. Eine Einwilligung wäre für sie eine bewusste bzw. erzwungene Lüge. Somit sind sie aus dieser Logik heraus prinzipiell, also immer, einwilligungsunfähig.
Für Menschen der Gruppe B) ist die PatVerfü® das maßgeschneiderte Instrument, um für sich selbst der Zwangspsychiatrie einen Riegel vorzuschieben: Geisteskrank? Ihre eigene Entscheidung!
Das BVerfG stand also vor dem Dilemma, entweder wider die Logik diesen Beweis zu ignorieren (um den Preis, dass es sich der Missachtung zwingender Logik hätte bezichtigen lassen müssen) oder aber die Entscheidung von 2011 zu revidieren. Für das höchste deutsche Gericht ist das offenbar zu viel verlangt und deshalb versuchte es, statt die psychiatrische Zwangsbehandlung ganz zu verabschieden und sich Menschenrechte konform zu machen, einen letzten Rettungsversuch. Es erklärt das Patientenverfügungsgesetz nur für Menschen der Gruppe B), die eine PatVerfü haben, für rechtlich bindend und wirksam. Als Legitimations-Vorwand dient ihm der juristische Grundsatz, dass niemand über die Rechte Anderer verfügen darf. Das wirkt aber zweiseitig – so dürfen einerseits nicht die Rechte eines/r PatVerfü-Geschützten aus dem Patientenverfügungsgesetz § 1901a verletzt werden, aber andererseits darf niemand eine/n Andere/n gefährden z.B. durch eine Bedrohung oder einen Nötigungsversuch. Dieser Grundsatz gilt aber für alle Menschen gleichermaßen und ihm wird im Rechtsstaat gerade auch ohne eine Psychiatrisierung umfassend Rechnung getragen. Nina Hagen, die Schirmfrau der PatVerfü, hat das so zusammengefasst:
„Wer bestreitet, dass es psychische Krankheiten gibt, bestreitet nicht, dass es auffälliges Verhalten und Andere störende Gedanken und Gefühle gibt. Bestritten wird nur, dass es sich dabei um eine Krankheit handelt und ärztliche Heilkunst zu Rate zu ziehen sei. Da der Rechtsstaat jeden möglichen Winkel des Verhaltens, das die Rechte, das Eigentum oder den Körper Anderer verletzt oder gefährdet, auch ohne die Sonderentrechtungs-Konstruktion von „psychischer Krankheit“ sanktionieren kann, gibt es keine Lücken im Recht, die diese viel weitgehendere und willkürliche Entrechtung und Endwürdigung in der Psychiatrie rechtfertigen könnte.
Durch die Zwangspsychiatrie bietet die Medizin der staatlichen Gewalt nur einen zusätzlichen Bestrafungsapparat zum Brechen des Willens, der Überwachung, Nötigung, Einschüchterung, Bedrohung und Verängstigung erwachsender Bürger an – eine Art Gedankenpolizei.“ 2
Für eine Zwangsdiagnose gibt es gegen eine PatVerfü keine Rechtfertigung, denn ohne Diagnose wird kein Recht eines anderen verletzt, sondern durch den Zwang würden nur die Rechte des Betroffenen aus der PatVerfü verletzt.
Nur durch konkretes Handeln bzw. Taten kann eine Gefährdung usw. eines/r Anderen eintreten. Aber diesen konkreten Gefährdungen kann sowieso ohne Zwangspsychiatrie begegnet werden, wie es Nina Hagen oben richtig beschrieben hat.
Also gibt es überhaupt keine Rechtfertigung für Zwangsbehandlung gegen eine PatVerfü mehr, weil
a) keine Zwangsdiagnose gemacht werden darf (und sowieso nicht gemacht werden können sollte, wenn die Person konsequent schweigt) und
b) Gefährdungen und kriminelle Taten durch das engmaschige Straf- und Ordnungsrecht sowieso erfasst sind, es also keine gesetzeskonforme Rechtfertigung für psychiatrische Zwangsmaßnahmen gibt. Sie sind ein unverhältnismäßiges, weil unzulässig weniger mildes Mittel, eine Missachtung von Art. 2 GG, weil die körperliche Unversehrtheit durch eine Zwangsbehandlung verletzt wird – genauso wie auch durch eine Zwangsdiagnose, wie das LG Köln in seinem Urteil Aktenzeichen 25 O 308/92 schon 1995 festgestellt hat (der Arzt musste Schmerzensgeld zahlen).
Fazit:
Psychiatrische Zwangsbehandlung kann nur durch eine, die entsprechende Zwangsbehandlung explizit bewilligende, vorher mit freiem Willen verfasste, Patientenverfügung gerechtfertigt werden. Der Versuch, den Art. 2 GG so zu interpretieren, dass eine Einwilligungsunfähigkeit unter bestimmten Bedingungen eine zu erduldende Körperverletzung von Menschen rechtfertigen könne, die psychische Krankheit weder für wahrscheinlich halten, noch daran glauben, noch von deren Existenz überzeugt sind, hat das BVerfG mit seiner Entscheidung verworfen, weil es gegen das absolute Folterverbot verstößt. Der PatVerfü ist damit der Status von jus cogens eingeräumt worden, wie RA Dr. David Schneider-Addae-Mensah in seiner Pressemitteilung mitteilte. Auch der Sonderberichterstatter über Folter des UN-Menschenrechtsrats, Juan E. Méndez, hat gefordert, dass „alle Staaten ein absolutes Verbot aller medizinischen nicht einvernehmlichen bzw. Zwangsbehandlungen von Personen mit Behinderungen verhängen sollten, einschließlich nicht-einvernehmlicher Psychochirurgie, Elektroschocks und Verabreichung bewusstseinsverändernder Drogen, sowohl in lang- wie kurzfristiger Anwendung. Die Verpflichtung, erzwungene psychiatrische Behandlung wegen einer Behinderung zu beenden, ist sofort zu verwirklichen und auch knappe finanzielle Ressourcen können keinen Aufschub der Umsetzung rechtfertigen.“3 Der Trick des BVerfG, dieses jus cogens nur für Menschen gelten zu lassen, die durch eine PatVerfü geschützt sind, hat nur noch aufschiebende Wirkung4. So wird nur der Kontrast zwischen Personen, die sich in vorausschauender Vorsicht mit einer PatVerfü geschützt haben und denen, die dies unvorsichtigerweise nicht getan haben, verstärkt. Ungeschützt sind sie weiterhin im freien Fall in die Zwangspsychiatrie. Mangels Verbot psychiatrischer Diagnosen mittels PatVerfü können sie sich wegen unterstellbarer Krankheitseinsicht auch nicht gegen eine tatsächliche oder unterstellte „Fremdgefährdung“ verteidigen, die z.B. zu einer legalisierten Zwangsbehandlung führen kann. Aber auch deren Rechte hat das BVerfG so gestärkt, dass nur dann, wenn die Rechte anderer verletzt werden, Zwangsbehandlung legalisiert durch staatliche Gewalt ins Spiel kommen darf. Und zwar immer nur verhältnismäßig!
Diese verfassungsrechtliche Sicht muss auch von den unteren Gerichten anerkannt werden, oder diese müssen durch konsequente Klagen bei den oberen Gerichten über ihre Unrechtsentscheidungen wider das GG belehrt werden.
Beachtlich: Das BVerfG hat mit dieser Entscheidung auch die Begründung seiner vorherigen Ablehung einer einstweiligen Anordnung vom 7. September 2017 revidiert, siehe: http://www.bverfg.de/e/rk20170907_2bvr186617.html!
—————————-
1 Die Pressemitteilung mit Link zum vollständigen Text der Entscheidung hier: https://www.bundesverfassungsgericht.de/SharedDocs/Pressemitteilungen/DE/2021/bvg21-066.html
2 Das Zitat von Nina Hagen stammt aus ihrem Artikel „Geisteskrank? Ihre eigene Entscheidung!“ im Buch „Stadtwirte /Von Sozialraumfarmern und Inklusionswirten“ (Herausgegeben von G.I.B. – Gesellschaft für integrative Beschäftigung mbH). Der Text ist außerdem auf der Internetseite der PatVerfü zu lesen: https://www.patverfue.de/nina-hagen-ueber-die-patverfue
3 Das ins Deutsche übersetzte Zitat stammt aus Seite 5 in: Statement by Mr. Juan E Méndez SPECIAL RAPPORTEUR ON TORTURE AND OTHER CRUEL, INHUMAN OR DEGRADING TREATMENT OR PUNISHMENT. 22nd session of the Human Rights Council Agenda Item 3. 4 March 2013 Geneva
Internet siehe: https://www.zwangspsychiatrie.de/wp-content/uploads/2017/09/Juan_Mendez.pdf
4 siehe die UN-BRK, also Menschenrechte konforme, gewaltfreie Psychiatrie, wie sie in diesem Artikel in der Recht&Psychiarie konzeptionalisiert wurde: https://tinyurl.com/martinzinkler
Werner-Fuß-Zentrum