Wahlprüfsteine für die Landtagswahl in Thüringen

Wahlprüfsteine der  Bundesarbeitsgemeinschaft Psychiatrie-Erfahrener
für die Landtagswahl am 27.10.2019 in Thüringen

Die Fragen unten hat die-BPE der CDU, SPD, FDP, DIE LINKE und BÜNDNIS 90/GRÜNE jeweils mit der Bitte um Antwort als Wahlprüfsteine und mit einem Hinweis auf die anschließende Veröffentlichung gestellt. Die Ergebnisse der Umfrage:

  • Die CDU hat es sich in ihrer hier dokumentierten Antwort ganz besonders einfach gemacht, indem sie überhaupt nichts zu unseren Fragen schreibt. Stattdessen  sendet sie nur ihr Wahlprogramm, das nichts, aber auch rein gar nichts zur Psychiatrie enthält, das Wort taucht nicht darin auf. Bei einer solchen maximal arroganten Ignoranz den systematischen Menschenrechtsverletzungen in der Zwangspsychiatrie gegenüber, können wir von deren Wahl deshalb nur abraten.
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  • DIE LINKE verfällt in ihrer hier dokumentierten Antwort auf Demagogie, wenn sie sich zu solchen paradoxen Aussagen versteigt: Manche Betroffene weisen sich in solchen Situationen auch selbst in die Einrichtungen ein, weil sie sich Hilfe erhoffen. Vor diesem Hintergrund sind die Regelungen in dem von Ihnen benannten Thüringer Landesgesetz zu sehen. Thüringische Zwangsgesetze also doch nur für die, die sowieso in die Psychiatrie wollten. Das ist zynisch, um nicht zu sagen bösartig.
    Genauso eine Lüge ist, Zitat:  Als solche „Notinstrumente im Einzelfall“ sind sie auch nach der UN-BRK… durchaus zulässig. Die VerfasserInnen wollen nicht zur Kenntnis nehmen, dass nirgendwo in der UN-BRK solche „Notinstrumente“ erwähnt sind, sondern im Gegenteil immer wieder betont wird, dass die UN-BRK ausnahmslos zu gelten hat, wie das bei Menschenrechten eben der Fall sein muss (siehe z.B. Gutachten Prof. Rohrmann, Seite 3, 10).
    Welche Schlussfolgerung aus diesen zynischen Konstrukten  von „DIE LINKE zu ziehen sind, möchten wir den Leserinnen und Lesern überlassen.
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  • Die SPD hat es sich in ihrer hier dokumentierten Antwort ganz einfach gemacht, indem sie überhaupt nichts zu unseren Fragen schreibt. Stattdessen  sendet sie (wie die CDU) nur ihr Wahlprogramm, das nichts, aber auch rein gar nichts zur Psychiatrie enthält, das Wort taucht nicht darin auf. Bei einer solchen maximal arroganten Ignoranz den systematischen Menschenrechtsverletzungen in der Zwangspsychiatrie gegenüber, können wir von deren Wahl deshalb nur abraten.
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  • BÜNDNIS 90/Die GRÜNEN haben sich in ihrer hier dokumentierten Antwort zwar für eine gewaltfreie und menschenrechtskonforme Psychiatrie ausgesprochen. Dieser Behauptung  widersprechen sie aber unmittelbar danach, Zitat: Die Anwendung von Gewalt und Zwang darf nur im absoluten Ausnahmefall möglich sein. Also Menschenrechte nur als nette Option, wenn nicht gerade mal wieder so ein „Ausnahmefall“ ist. So wird typischerweise bei allen Menschenrechtsverletzungen argumentiert, auch bei Folterungen (z.B. im Irak-Krieg) wird immer behauptet, dass diese immer nur „die absolute Ausnahme“ seien. So beschleicht uns der Verdacht, dass die Grüne Forderung einer gewaltfreien und menschenrechtskonformen Psychiatrie leider nur ein Lippenbekenntnis ist.
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  • Die FDP hat ohne jegliche Erklärung nicht geantwortet, ob aus Ignoranz, Missachtung oder weil sie vermeiden wollen, sich zu den Foltergesetzen zu äußern, um damit behaupten zu können, sie hätten eine weiße Weste, auch wenn sie sich nie von diesen Sondergesetzen distanziert haben, mag dahingestellt bleiben. Daraus eine Schlussfolgerung zu ziehen bzw. eine Wahlentscheidung zu treffen, möchten wir den Leserinnen und Lesern überlassen.

Wegen der erwähnten Vorbehalte können wir bei dieser Landtagswahl KEINE Wahlempfehlung geben.
[Da die AfD ganz offen mit Rechtsradikalen verwoben ist, können wir nur ganz besonders von deren Wahl abraten – wo diese in Deutschland an die Macht gekommen waren, hatten sie den Ärzten freie Bahn für den systematischen Massenmord in den Psychiatrien verschafft.]

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Die Fragen von die-BPE:

Wahlprüfstein 1: Psychiatrische Menschenrechtsverletzungen

Interessengruppen von Psychiatrie-Erfahrenen fordern seit langem, dass psychiatrische Zwangsmaßnahmen wie Isolierungen, Zwangsbehandlungen und sogenannte „Fixierungen“ als Folter und Menschenrechtsverletzungen anerkannt werden.* Derartige Gewaltformen erfüllen die in der UN-Antifolterkonvention unter Art. 1 (1) beschriebenen Kriterien für die Qualifikation als Folterhandlung.**Auch der UN-Sonderberichterstatter über Folter und der UN-Ausschuss für die Rechte von Menschen mit Behinderungen haben diese Einschätzung bekräftigt.[3][4] Beide Gremien sind als supranationale Autoritäten mit der Beurteilung der Einhaltung und Auslegung von Menschenrechtsabkommen betraut.

Der Gesetzgeber ignoriert diese Einschätzungen und Kernforderung der Betroffenen allerdings. Nach aktuellem thüringischem Landesrecht sind psychiatrische Gewaltmaßnahmen wie die Internierung in einer psychiatrischen Anstalt oder Station (§ 7 (1) ThürPsychKG, § 13 (2) ThürMRVG), die Untersuchung (§ 6 (3) ThürPsychKG), die Behandlung (§ 12 (3) ThürPsychKG, § 29 ThürMRVG), die Ernährung (§ 12 (5) ThürPsychKG), die Isolation (§ 14 (1) ThürPsychKG, § 26 (1) ThürMRVG), der Entzug von Beschäftigungsmöglichkeiten (§ 21 (2) ThürMRVG), die Fesselung am ganzen Körper oder Betäubung (§ 14 (1) ThürPsychKG, § 26 (1) ThürMRVG) sowie das Zufügen von körperlicher Gewalt und Schmerzen (§ 16 (1 & 3) ThürPsychKG, § 27 (1) ThürMRVG) explizit entgegen dem Willen des Betroffener erlaubt. Darüber hinaus sind danach auch entwürdigende Praktiken gegen den Willen erlaubt wie etwa die Untersuchung von Körperöffnungen (§ 15 (2) ThürPsychKG), die Wegnahme von Kleidung (§ 17 (1) ThürPsychKG, § 15 (1) ThürMRVG) und die ständige Beobachtung (§ 14 (3) ThürPsychKG, § 26 (5) ThürMRVG).

Fragen:
Erkennt ihre Partei an, dass es sich bei psychiatrischen Zwangsmaßnahmen um Menschenrechtsverletzungen handelt?
Welche konkreten (außer)parlamentarischen Maßnahmen (Gesetzesinitiativen, Anfragen, Demonstrationen usw.) hat Ihre Partei in der laufenden Legislaturperiode zur Beseitigung  und zum Verbot von Psychiatriegewalt unternommen?

Wahlprüfstein 2: Psychiatrische Sondergesetzgebung

Die Achtung der Gleichberechtigung und der UN-Behindertenrechtskonvention (Art. 12) unterbinden die Etablierung von Sondergesetzen für bestimmte Bevölkerungsgruppen und Minderheiten.[5] Das „Thüringer Gesetz zur Hilfe und Unterbringung psychisch kranker Menschen“ (ThürPsychKG) und das „Thüringer Maßregelvollzugsgesetz (ThürMRVG)“ sind Sondergesetz in diesem Sinne, welche ausschließlich für Menschen mit einer tatsächlichen oder unterstellten „seelische Störung“ (§ 1 (2) ThürPsychKG) bzw. „Abartigkeit“ (§ 11 (4) ThürMRVG) gelten.

Bisher hat die Landesregierung in der aktuellen Legislaturperiode keine Schritte erkennen lassen, den Vorgaben der UN-Behindertenrechtskonvention nachzukommen und diese Sondergesetze abzuschaffen. Hingegen ist eine Novellierung noch für dieses Jahr vorgesehen.[6]

Frage:
Welche konkreten (außer)parlamentarischen Vorstöße hat ihre Partei in der laufenden Legislatur unternommen, um die vorbezeichneten Sondergesetze abzuschaffen? Welche Konkreten Schritte möchte Ihre Partei bzw. Fraktion in der kommenden Wahlperiode unternehmen, um ein Novellierungsverfahren zu verhindern und stattdessen die Gesetze außer Kraft zu setzen?

Wahlprüfstein 3: Psychiatrische Macht

In gerichtlichen Verfahren wird unter Einholung von psychiatrischen „Expertisen“ (Gutachten, Atteste, Stellungnahmen usw.) über die Durchführung und Legitimation von psychiatrischen Zwangsmaßnahmen entschieden. Diese Verfahren werden allerdings einseitig von der Psychiatrie dominiert. Umfangreiche Untersuchungen  belegen, dass die Richter in ihren Entscheidungen fast immer den Empfehlungen und Wünschen der Psychiater folgen.[7][8]

Betroffene bemängeln, dass die Verfahren unter diesen Umständen nicht fair sind und rechtstaatlichen Ansprüchen nicht gerecht werden. Angesichts der Etikettierung als „psychisch gestört“ – oder auch nur durch einen entsprechenden Verdacht – hat ihre Stimme vor Gericht kaum Einfluss und Gewicht. Selbst Rechtsanwälte oder Verfahrenspfleger können gegen die vorgebliche medizinische „Expertise“ der Psychiater oft kaum etwas ausrichten. In Thüringen ist nach § 6 Abs. 3 ThürPsychKG sogar die psychiatrische Untersuchung gegen den Willen der Betroffenen gestattet, was es zusätzlich erschwert, sich gegen eine ungewollte psychiatrische Einschätzung zu wehren.

Frage:
Welche konkreten Maßnahmen hat ihre Partei in der aktuellen Legislaturperiode unternommen, um die Macht psychiatrischer Gutachten einzuschränken und psychiatrische Begutachtungen gegen den eigenen Willen zu beenden? Welche konkreten Maßnahmen wird ihre Partei ergreifen, um den Einfluss psychiatrischer Gutachten zu minimieren oder zu unterbinden und um Begutachtungen und Untersuchungen gegen den geäußerten Willen zu verbieten?

Wahlprüfstein 4: Psychiatrische Diskreditierung und Überzeugungsfreiheit

Die Psychiatrie sieht sich aus verschiedensten gesellschaftlichen Richtungen anhaltender Kritik an ihrer angeblichen Wissenschaftlichkeit, ihrer Sprache, Ethik oder ihrem Menschenbild ausgesetzt. Auch Betroffene kritisieren immer wieder die Methoden und angeblichen Erkenntnisse der psychiatrischen Wissensproduktion. Zudem gibt es über verschiedenste und insbesondere biopsychiatrische Thesen selbst innerhalb der Disziplin kontroverse Diskussionen über grundlegendste Fragen. Die Vielzahl psychiatrischer Begriffe, Thesen und Praktiken kann folglich nicht als valide gelten.

Dennoch spiegelt sich dieser kontroverse Status in der Gesetzeslage kaum wieder. Vielmehr werden Betroffene in Anstalten dazu gedrängt oder gezwungen, psychiatrischen Überzeugungen zu folgen und danach etwa „Krankheitseinsicht“ oder „Compliance“ zu erlangen. Personen, die sich wiedersetzen sehen sich einer Vielzahl von psychiatrischen Diskreditierungen ausgesetzt: ihnen wird oftmals pauschal die Fähigkeit zur Rationalität abgesprochen, sie werden neben dem Etikett der „psychischen Störung“ etwa als „einwilligungsunfähig“ oder „krankheitsuneinsichtig“ dargestellt, und ihr Wille wird nicht als freier Wille anerkannt. Hierdurch werden Betroffene vielfach in sanistischer Weise diskriminiert [9]. Auch ihre Meinungs-, Gedanken- und Überzeugungsfreiheit wird dadurch massiv eingeschränkt.

Frage:
Welche Maßnahmen hat ihre Partei in der Vergangenheit bisher unternommen damit sich Betroffene vor solchen psychiatrischen Unterstellungen und Diskreditierungen wirksam schützen können? Welche konkreten Maßnahmen hat Ihre Partei unternommen, um auch die Meinungs- und Gedankenfreiheit von Menschen in psychiatrischen Anstalten gleichberechtigt durchzusetzen? Wie schützen Sie die Haltung und Interessen von Betroffenen, die nichts mit der Psychiatrie zu tun haben wollen oder die das Konzept der „psychischen Krankheit“ grundsätzlich nicht überzeugt?

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* Gemeint sind hier explizite Unternehmungen, welche auf die Abschaffung und nicht etwa die Vermeidung oder Verringerung von Zwangsmaßnahmen abzielen.

** Die zitierte Untersuchung bezieht sich auf Auswertungen in Bayern. Es gibt allerdings derzeit keine Hinweise, dass die Situation in Thüringen sich diesbezüglich in gravierendem Maß unterscheidet.

Nachweise:

[1] Bündnis gegen Folter in der Psychiatrie (2013). https://folter-abschaffen.de/ [Abruf 10.08.2019]

[2] Halmi, A. C. (2010). Zwangspsychiatrie: ein durch Folter aufrecht erhaltenes System. In: Irren-Offensive (Hrsg.): Irren-Offensive – 30 Jahre Kampf für die Unteilbarkeit der Menschenrechte. Arbeitsgemeinschaft Sozialpolitischer Arbeitskreise; Neu-Ulm: 39–67.

[3] Méndez, J. E. (2013). Report of the Special Rapporteur on Torture and Other Cruel, Inhuman or Degrading Treatment or Punishment, Juan E. Méndez (A/HRC/22/53). United Nations (General Assembly); http://www.ohchr.org/Documents/HRBodies/HRCouncil/RegularSession/Session22/A.HRC.22.53_English.pdf [Abruf 10.08.2019].

[4] United Nations Committee on the Rights of Persons with Disabilities (2015). Concluding observations on the initial report of Germany (CRPD/C/DEU/CO/1). United Nations (Convention on the Rights of Persons with Disabilities); https://documents-dds-ny.un.org/doc/UNDOC/GEN/G15/096/31/PDF/G1509631.pdf?OpenElement [Abruf 10.08.2019].

[5] United Nations Committee on the Rights of Persons with Disabilities (2014). General Comment No. 1 (2014). Article 12: Equal recognition before the law (CRPD/C/GC/1). United Nations (Convention on the Rights of Persons with Disabilities); https://documents-dds-ny.un.org/doc/UNDOC/GEN/G14/031/20/PDF/G1403120.pdf?OpenElement [Abruf 10.08.2019].

[6] Gerlinger, G.; Deister, A.; Heinz, A.; Koller, M.; Müller, S.; Steinert, T. & Pollmächer, T. (2019). Nach der Reform ist vor der Reform. Ergebnisse der Novellierungsprozesse der Psychisch-Kranken-Hilfe-Gesetze der Bundesländer. Der Nervenarzt; 90 (1): 45–57.

[7] Kassab, V. & Gresser, U. (2015). Was macht Österreich besser? Ergebnisse einer Befragung von medizinischen Sachverständigen in Österreich und Vergleich mit einer Befragung medizinischer Sachverständiger in Deutschland. Der Sachverständige; 42 (11): 268–276.

[8] Kassab, V. (2017). Untersuchung zum Einfluss unterschiedlicher gesetzlicher Regelungen für medizinische Gutachter auf das Gutachterwesen. Befragung von 924 medizinischen Sachverständigen in Österreich 2014 und Vergleich mit den Ergebnissen einer Befragung von 548 medizinischen und psychologischen Sachverständigen in Bayern/Deutschland 2013. Dissertation. Medizinische Fakultät, Ludwig-Maximilians-Universität München; München.

[9] Poole, J. M. & Jivraj, T. (2015). Mental health, mentalism and sanism. In: Wright, J. D. (Hrsg.): International encyclopedia of the social and behavioral sciences (2. Aufl.). Elsevier (Oxford): 200–203.