Existentielle Selbstbestimmung und Rechtssicherheit der Bürger werden bedroht
Die Autoren der folgenden Erklärung, Prof. Wolf-Dieter Narr und die Rechtsanwälte Dr. David Scheider-Addae-Mensah, Thomas Saschenbrecker und Dr. Eckart Wähner, haben uns diese zur Veröffentlichung zur Verfügung gestellt. Diese Erklärung und eine mit ausführlichen Erläuterungen versehene Stellungnahme der vier Autoren ist hier veröffentlicht: http://www.die-bpe.de/selbstbestimmung_bedroht
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19.11.2012
Die existentielle Selbstbestimmung von Bürgerinnen und Bürgern
und ihre diesbezügliche Rechtssicherheit werden bedroht
Die in den Grundrechten verankerte, im Patientenverfügungsgesetz (PVG) spezifisch abgesicherte Selbstbestimmung droht erodiert zu werden. Nach langer Diskussion wurde von einer großen Mehrheit im Bundestag das PVG beschlossen. Dass es allen Bürgerinnen und Bürger gelte, also in seiner Reichweite unbegrenzt sei, versteht sich grund- und menschenrechtlich von selbst. Dieses Gesetz gilt konsequent bei Einwilligungsunfähigkeit einer Person „unabhängig von Art und Stadium einer Erkrankung“*. Damit wurde für alle medizinischen Behandlungen gesetzlich geregelt, dass bei einer Einwilligungsunfähigkeit entweder der voraus verfügte Wille, dokumentiert in einer Patientenverfügung (PV), oder – ohne Dokument – der mutmaßliche Wille maßgeblich sei. Der mutmaßliche Wille – bei grundlegend geltender Integrität jedes Menschen – wird aufgrund konkreter Anhaltspunkte ermittelt. Insbesondere sind von Patienten unerwünschte medizinische Untersuchungen und Behandlungen wirksam zu untersagen.
Der Gesetzgeber hat konsequent dem aktuell geäußerten Willen (im Juristendeutsch „natürlicher Wille“) Verbindlichkeit verschafft: „Eine Patientenverfügung kann jederzeit formlos widerrufen werden„*. Diese Regelung verallgemeinert die gesetzliche Spezialregelung der ebenfalls körperverletzenden Sterilisation. Sie darf nie gegen den Willen vorgenommen werden. Die entsprechende Willensäußerung ist nicht als „freier Wille“ von außen zu qualifizieren. Deshalb kann im Fall des Fehlens einer schriftlichen Patientenverfügung nur der geäußerte Wille, eine Behandlung zu unterlassen, als konkreter Anhaltspunkt dienen, wenn aus früheren Zeiten entgegenstehende Aussagen fehlen. In Konfliktfällen ist wiederum zu berücksichtigen, dass selbst dann, wenn eine psychiatrische Zwangsbehandlung verfügt worden sein sollte, sie widerrufen werden könnte, da sie dem natürlichen Willen widerspräche.
Jede Missachtung des aktuell geäußerten Willens stellt eine Körperverletzung dar. Eine solche wäre gesetzlich entsprechend zu ahnden.
Jerzy Montag hat es in seiner Rede vom 29.3.2007 im Plenum des Bundestags auf den Punkt gebracht:
„Darf der geäußerte und eindeutige Wille des Patienten von Ärzten, Betreuern oder Gerichten in Zweifel gezogen werden? Ich meine, nein. Es kann nicht darum gehen, zu beweisen, dass der geäußerte Wille weiter gilt – das ist nie möglich –; vielmehr tragen diejenigen, die ihn anzweifeln, die Beweislast, dass er sich wirklich geändert hat.“
Dem Rechtsfortschritt des PVG entsprechend haben das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) 2011 und der Bundesgerichtshof (BGH) 2012 durch jeweils zwei Entscheidungen Rechtssicherheit geschaffen.
Die dadurch in den Psychiatrien zum Erliegen gekommene Zwangsbehandlung hat nicht nur die Psychiatervereinigung DGPPN auf den Plan gerufen, die den professionellen Machtverlust nicht hinnehmen will. Auch der deutsche Richterbund verdreht in einer Erklärung seines Präsidiums die tatsächlich gewonnene Rechtssicherheit zu einer Rechtsunsicherheit. Mit dieser Perversion soll die Bundesregierung veranlasst werden, ein Gesetz vorzulegen, das die Reichweite des PVG begrenzte und eine grund- und menschenrechtlich haltlose lex specialis zur Folge hätte. Eine vorweg unbestimmbare Gruppe von Patienten, mit immer prekären Gründen „psychisch krank“ etikettiert, würde – die vergangenen Spuren schrecken – pauschal diskriminiert. Sie würde einer wissenschaftlich wahrhaftig fragwürdigen ärztlichen Vernunftshoheit unterworfen. In diese Richtung haben auch die bayrische Justizministerin Merk und ihr baden-württembergischer Kollege Stickelberger argumentiert. Sie haben angekündigt, in derselben im Bundesrat initiativ zu werden.
Inzwischen sind in der Drucksache 17/10712** Antworten des BMJ (Bundesministeriums der Justiz namens der Bundesregierung) auf Fragen der Linkspartei veröffentlicht worden. Das BMJ anerkennt zwar, das PVG gelte. Es wird aber verkürzt dargestellt und damit entstellt. Es wird nämlich nur auf die schriftlich vorliegende PV abgehoben. Damit wird ein Gebot des Grundrechts auf Integrität und seiner durchgehend vermuteten Geltung, der natürliche Wille einer Patientin oder eines Patienten nicht im Wortsinne wahr-genommen.
Unterschlagen wird in der Antwort auf Frage 23 also die zentral wichtige Bestimmung im zweiten Absatz des PVG:
..Liegt keine Patientenverfügung vor oder treffen die Festlegungen einer Patientenverfügung nicht auf die aktuelle Lebens- und Behandlungssituation zu, ..ist der mutmaßliche Wille aufgrund konkreter Anhaltspunkte zu ermitteln.*
Das BMJ schafft stattdessen, wie seine Antwort auf Frage 13 zeigt, Zwangs-behandlungen Raum:
Wenn jemand krankheitsbedingt einsichtsunfähig ist, also keinen freien Willen bilden kann, hat der Staat unter engen Voraussetzungen ausnahmsweise die Befugnis, den Betroffenen vor sich selbst in Schutz zu nehmen. Dies kann auch dadurch geschehen, dass eine Behandlung gegen den Willen des Betroffenen ermöglicht wird. … Eine Behandlung gegen den natürlichen Willen darf jedoch nicht aus „Vernunfthoheit“ erfolgen, um eine von seinem Umfeld für erforderlich gehaltene Untersuchung oder Behandlung des Betroffenen herbeizuführen.
Auffällig an dieser Antwort ist auch, dass das BMJ erneut den unbestimmten Rechtsbegriff „enge Voraussetzungen“ nicht ausführt. Diese wäre jedoch unabdingbar, wolle es der bundesverfassungsgerichtlichen Entscheidung vom März 2011 genügen und die dort aufgestellten hohen Hürden rechtsimmanent überspringen.
Die Feststellung des BMJ in der Antwort auf Frage 23 würde zur Farce:
Bei den Regelungen zur Patientenverfügung sieht die Bundesregierung keinen Nachbesserungsbedarf.
Die unbestimmten „engen Voraussetzungen“ schüfen ein fast beliebig ausweitbares Loch in der rechtlich fundamentalen Zusage des PVG zur Selbstbestimmung, dort, wo sie für Menschen existentielle Kernbereiche betrifft und seiner darum konsequenten Absage an immer arbiträren, durch keine menschliche Wahrheit legitimierbaren Zwang.
Es darf keinerlei Sonderregelungen für Zwangsbehandlung von psychisch Kranken geben. Das PVG verlöre durch eine immer willkürsoffene Begrenzung seiner Reichweite in seinem Kernbereich seinen Rechtssicherheit garantierenden Sinn. Das Wohl wird auch bei Einwilligungsunfähigen durch den (natürlichen) Willen der Betroffenen bestimmt.
Im Folgenden ein erläuternder Text zur weiteren Vertiefung unseres Anliegens.
Wir sind fast jederzeit bereit, in geeigneten Rahmen unsere Positionen darzulegen und zu diskutieren.
Prof. Wolf-Dieter Narr
RA Dr. David Schneider-Addae-Mensah
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* zitiert aus § 1901a BGB
** http://dip21.bundestag.de/dip21/btd/17/107/1710712.pdf
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