Deutschland im Homogenisierungswahn
Hier ist der Text des Beitrags „Endstation Klapse!“ der Sendung „Kulturzeit“ auf 3SAT am 25.1.2011:
Zwangseinweisung
Deutschland im Homogenisierungswahn
Jedes Jahr werden in Deutschland rund 200.000 Menschen in die Psychiatrie eingewiesen – doppelt so viele wie noch vor 15 Jahren. Manche Zwangseinweisung scheint übereilt zu sein. Wissenschaftler schätzen, dass sich jede zehnte Einweisung ohne Rechtsgrundlage vollzieht. Es betrifft Menschen aller Schichten und aller Bildungsgruppen. Besonders häufig sind es ältere Menschen, wie zum Beispiel die Berlinerin Gisela Z.. Mehrfach wurde sie gegen ihren Willen eingewiesen. „Das ist furchtbar“, sagt sie. „In irgendeiner Haltung wird man angeschnallt und muss dann verharren oder schlafen.“ Gisela Z. wurden Klopfen und Lärmen in ihren eigenen vier Wänden vorgeworfen, dazu mangelnde Wohnungspflege. Es gab Beschwerden von der Nachbarschaft. Keine Frage: Sie hätte fremde Hilfe gut gebrauchen können. Ihr Betreuer entschied sich aber für eine Zwangseinweisung – angeblich zum Wohl der Betroffenen – für die Rentnerin eine Qual.
Menschen, die keiner Norm entsprechen
„Ich habe mich nur in mich zusammen gekrochen und gehofft, dass es Hilfe gibt“, berichtet sie. „Ich habe nachts nicht schlafen können von den Medikamenten. Ich konnte nicht mehr reden.“ Gisela Z. wehrte sich gegen die Bevormundung. Zu den Anwälten, die sie dabei unterstützten, gehörte Thomas Saschenbrecker: Der Experte für Psychiatrie-Recht warnt, dass immer mehr Menschen, die nicht der gesellschaftlichen Norm entsprechen, in Psychiatrien zwangsabgeschoben werden. „Es ist eine Form der Homogenisierung der Gesellschaft“, sagt er. „Hier wird alles, was unbequem, was auffällig ist, ‚weggeschafft‘. Nicht in der krassen Form, aber leider viel zu oft gegen die Interessen der Individualität.“
Wie schnell es zu Zwangseinweisungen kommen kann, bestätigt eine frühere Krankenschwester einer Psychiatrie, die nicht genannt werden möchte. Altenheime würden Menschen einliefern lassen. Gründe gäbe es viele: steigender Kostendruck, Überlastung oder schlicht Bequemlichkeit. „Weihnachten fährt nur eine halbe Schicht“, berichtet sie. „Und wenn viel Arbeit ist, werden die Leute verteilt.“ Auch in geschlossene psychiatrische Abteilungen?, fragen wir nach. „Dann wird der Hausarzt angerufen: ‚Er hat geschlagen‘. Und bei uns stellt sich meistens heraus, es ist alles vollkommen harmlos.“
Menschenwürde wird entzogen
Laut Gesetz muss der Betroffene entweder sich selbst oder andere gefährden, bevor ihn ein Arzt oder Betreuer einweisen lassen kann. Es gilt der Aspekt der Fürsorge. Doch immer häufiger würden die Grundrechte Betroffener gebrochen, warnt der inzwischen emeritierte Politikwissenschaftler Wolf Dieter Narr, Mitbegründern des Komitees für Grundrechte und Demokratie. „Das ist unerhört, wenn man bedenkt das Satz eins des ersten Artikel des Grundgesetzes heißt: ‚Die Würde des Menschen ist unantastbar‘. Das heißt, mindestens 200.000 Bürgerinnen und Bürgern wird jedes Jahr ihr zentrales Grundrecht, die Würde, entzogen.“
Das St. Joseph Krankenhaus in Berlin-Weißensee ist eine der Kliniken, in denen Gisela Z. untergebracht war. Es ist ein christliches Vorzeigehaus: offen, demokratisch und modern. Die Zwangseinweisung von Gisela Z. sei Ausdruck von Humanität, erklärt die Leiterin, Chefärztin Iris Hauth. „Das ist auch eine ethische Frage“, sagt sie. „Wenn Menschen in eine Psychose, eine schwere psychische Störung geraten, lässt man sie dort, weil sie selbst keine Krankheitseinsicht haben. Man lässt sie in ihrem Leiden oder greift an dieser Stelle eine Fürsorgepflicht und holt sie aus ihren Leiden heraus.“
Im Zweifel gegen die Freiheitsrechte
Das Amtsgericht hat die Betreuung für Gisela Z. wieder aufgehoben. Sie sei in der Lage, ihren Willen frei zu bestimmen. Wie weit kann ein psychisch kranker Mensch für sich Verantwortung übernehmen? Der Gratz zwischen Fürsorge und Freiheitsberaubung ist manchmal schmal. Eine Zwangseinweisung sollte immer die Ausnahme bleiben. Immer häufiger wird im Zweifel gegen die Freiheitsrechte der Betroffenen entschieden und für den störungsfreien Ablauf der Gemeinschaft. Das beobachtet auch der Bremer Rechtswissenschaftler und Strafverteidiger Hellmuth Pollähne. „Der Druck auf Bekannte und Verwandte nimmt zu“, sagt er. Das Motto sei: „Schafft uns doch diesen Störfaktor vom Hals. Dafür gibt es Profis, dafür gibt es Einrichtungen und Verfahren, die das Problem entsorgen.“
„Betreuungsrecht ist inzwischen regelrecht zum Großunternehmen geworden“, sagt Rechtsanwalt Thomas Saschenbrecker, „wo man jedes Jahr immer mehr Menschen unter Betreuung stellt und die Leute wegsperrt, weil es bequemer ist.“ Es gibt wenig Platz für Sonderlinge. Die Normierung des Lebens findet längst statt. Mithilfe der Wissenschaft sucht man Antworten auf die Frage: Was ist normal, was unnormal? Doch wo die Wissenschaft Klarheit verschaffen soll, bleibt wenig Platz für Grautöne. Was nicht passt, wird weggesperrt. „Das Gefährliche ist die Bereitschaft“, so Pollähne, „bei noch mehr Menschen noch früher sagen zu können und auch juristisch zu entscheiden und durchzusetzen: Vor dir muss die Gesellschaft geschützt werden. Die Bereitschaft zur Chemie oder zum Wegsperren wächst mit dem vermeintlichen Glauben und der vermeintlichen Gewissheit, man könne naturwissenschaftlich belegen, wer gefährlich und wer krank ist.“ Die Zahl der Zwangseinweisungen steigt rapide, und auch die Zahl der Betreuungen hat sich in den letzten 20 Jahren knapp verdreifacht. Doch was der Gesellschaft das Gefühl der Sicherheit verschaffen soll, wird zum Rückschlag für die Freiheitsrechte hunderttausender Bürger – wie Gisela Z..
Zur Mona Lisa Sendung vom 23.01.2011 gab es beim ZDF folgende Interviews im Internet:
Verletzung von Grundrechten
Rechtsanwalt Eckart Wähner über Zwangsunterbringung
Eckart Wähner ist Rechtsanwalt in Berlin. Seine Tätigkeitsschwerpunkte sind unter anderem das Betreuungs- und Unterbringungsrecht. Er hat viele Mandanten vertreten, die sich durch Rechtsmittel bei Zwangseinweisungen und Eingriffen durch eine Klinikunterbringung zur Wehr gesetzt haben. ML sprach mit ihm über die Verletzungen von Grundrechten bei einer zwangsweisen Unterbringung etwa in der Psychiatrie.
ZDF: Herr Wähner, sind Psychiatriepatienten häufig Grundrechtsverletzungen ausgesetzt?
Eckart Wähner: Der Komplex Psychiatrie in der juristischen Bearbeitung ist dadurch gekennzeichnet, dass die Betroffenen einen wesentlich geringeren Bezug und Zugang zu Rechten haben. In der Regel ist das mit einer Rechtsbeschränkung verbunden. Die Justiz, die juristische Bearbeitung tut sich unglaublich schwer, einen Zugang zu den Menschen zu finden, die untergebracht sind, wo es zum Freiheitsentzug kommt. Ich würde fast schon sagen, es ist ein weitgehend unkontrollierbar rechtsfreier Raum.
ZDF: Haben denn die Patienten alleine eine Chance?
Wähner: Ohne Außenunterstützung, ohne anwaltschaftliche Begleitung sind sie hoffnungslos einer Maschinerie ausgesetzt, die sich über ihnen zusammen zieht. Zwar gibt es bestimmte Verfahrensgarantien, es gibt eine bestimmte Ausgestaltung wie Verfahrenspfleger, wie Betreuer, wie richterliche Anhörungen. Aber das sind alles Dinge, die den Bedürfnissen der Leute nicht gerecht werden und auch keine ausreichenden Garantien darstellen, um am entscheidenden Punkt zu intervenieren.
ZDF: Also sind Patienten Bevormundungen ausgesetzt?
Wähner: Der Betroffene wird bevormundet, von der Klinik, von der Psychiatrie, von der Justiz im Allgemeinen, von dem Richter, von dem Betreuer, von allen Verfahrensbeteiligten. Denn man sagt, weil jemand krank, dement oder auffällig ist, der muss eben befürsorgt werden, er muss beaufsichtigt und kontrolliert werden.
ML Mona Lisa Sendung vom 23.01.2011:
„Leben im rechtsfreien Raum“
Rechtsanwalt Thomas Saschenbrecker über Zwangspsychiatrisierung
Thomas Saschenbrecker ist Rechtsanwalt in Ettlingen und hat sich viel mit dem Betreuungs- und Unterbringungsrecht beschäftigt. Er hat unter anderem auch die Patientin Eva-Maria Tepperberg vertreten, die erfolgreich gegen ihre gerichtlich angeordnete Betreuung geklagt hat. ML hat mit ihm über die Problematik am Beispiel dieses Falles gesprochen.
ZDF: Herr Saschenbrecker, können Sie nachvollziehen, warum Frau Tepperberg gegen ihren Willen in geschlossenen Psychiatrien untergebracht wurde?
Thomas Saschenbrecker: Frau Tepperberg hat dahingehend Unrecht erfahren, als vom Gesetz nicht vorgesehen ist, dass eine Betreuung gegen den Willen eines Betroffenen geführt wird. Hier ist nicht im Sinne eines Betreuten gehandelt worden, wie es das Betreuungsrecht eigentlich vorsieht. Frau Tepperberg hat sicherlich niemanden gefährdet. Sie hat weder Dritte gefährdet, was im Betreuungsrecht auch irrelevant wäre, noch hat sie sich selbst gefährdet in einem Maße, dass es gerechtfertigt hätte, einen derartig weitreichenden Grundrechtseingriff vorzunehmen.
ZDF: Worin besteht Ihrer Meinung nach die Problematik der geschlossenen Psychiatrien?
Saschenbrecker: Die große Problematik der geschlossenen Psychiatrien insgesamt besteht darin, dass keine hinreichenden Kontrolle, teilweise überhaupt keine Kontrollen vorhanden sind. Viel zu wenige Ärzte sind bereit, sich „in die Karten schauen zu lassen“, um eine gewissen Kontrolle und einen gewissen Konsens zu erreichen. Oft tritt da, wo letztendlich eine geschlossene Unterbringung seitens der Gerichte beschlossen wurde, auch ein Stück weit ein rechtsfreier Raum ein, weil letztlich eine mögliche Willkür wenig bis gar nicht kontrolliert werden kann.
ZDF: Wie erklären Sie sich, dass immer mehr Menschen gegen ihren Willen eingewiesen werden?
Saschenbrecker: Es ist ein Defizit, das man „psychisch anders“ oder „psychisch auffällig“ mit „gefährlich“ gleichsetzt. Dabei besteht diese Gefahr häufig gar nicht und es gibt keinen Grund dafür zu sagen, dass jemand anders sei oder gefährlich für die Allgemeinheit, nur weil er eine seelische Grunderkrankung hat.