Wende im deutschen Entmündigungsrecht?

 Junge Welt vom 27.12.2005 | Inland | Seite 5

 

Wende im deutschen Entmündigungsrecht?

 

Im Bundestag stehen gegenwärtig zwei Gesetzentwürfe für mehr Patientenrechte zur Debatte. Experten und Verbände hoffen auf Verbesserungen für Psychiatriepatienten und unheilbar Kranke

»Frei« oder »natürlich«? Das ist der Knackpunkt bei der aktuellen Reform des Paragraphen 1896 BGB. Dieser regelt die Einsetzung der Betreuung für eine geschäftsunfähige Person · sprich deren Entmündigung. Reformbedarf sehen die Gesetzgeber wegen des enormen Kostendrucks im psychiatrischen Bereich. Seit 1992 das alte »Entmündigungsrecht« in »Betreuungsrecht« umgetauft wurde, explodierte die Zahl der Entmündigten von rund 400000 auf über eine Million. Die entsprechend angewachsenen Kosten will man nun · angesichts der leeren öffentlichen Kassen · durch weniger Entmündigungen verringern.

Dazu soll dem Paragraphen nach dem Willen des Rechtsausschusses des Bundestages ein Absatz vorangestellt werden, nachdem eine Betreuung nicht gegen den »freien« Willen des Betroffenen eingesetzt werden darf. »Das hört sich fortschrittlich an, ist aber in Wirklichkeit eine Mogelpackung«, meint Eckhard Rohrmann, Marburger Pädagogikprofessor und Psychiatrieexperte. So bleibe die Feststellung des »freien« Willens weiter der Beurteilung eines Arztes unterworfen. Stelle der fest, der Patient sei unzurechnungsfähig, kann weiter gegen dessen Willen entmündigt werden. Das stört auch die »Bundesarbeitsgemeinschaft Psychiatrie-Erfahrener« (BagPE). »Man bleibt weiter der psychiatrischen Willkür und Entrechtung ausgesetzt« sagt René Talbot, Sprecher der BagPE.

Aus diesem Grund hat sie eine Kampagne für eine alternative Klausel gestartet. Statt des »freien« soll nun der »natürliche« Wille zählen. »Da gibt es dann nichts mehr durch Ärzte zu interpretieren. Es reicht: ·Ich will nicht!·« so Talbot. Mit der Kampagne gelang es zum einen, die Seniorenkonferenz der Berliner SPD für die Unterstützung der Begriffsänderung zu gewinnen, zum anderen sagte MdB Ludwig Stiegler, der für die SPD im Bundestagsrechtsausschuß sitzt, zu, daß die »Forderungen Berücksichtigung finden werden.« Trotzdem ist ein Erfolg unsicher.

Abhilfe könnte da von unerwarteter Seite kommen, denn das Bundesministerium der Justiz (BMJ) arbeitet gegenwärtig an der Neugestaltung eines weiteren Betreuungsrechtsparagraphen. Die Neufassung des §1901a BGB soll laut Justizministerin Brigitte Zypries (SPD) »das Selbstbestimmungsrecht der Patienten stärken«, indem die Möglichkeiten der Patientenverfügungen erweitert werden. Durch diese Verfügungen soll jeder Mensch im Vorhinein verbindlich entscheiden können, wie er nach dem Verlust seiner Entscheidungsfähigkeit behandelt werden will. Das zielt vor allem auf das Feld der Alterserkrankungen, wo das BMJ durch die Verfügungen Wünsche der Patienten sichern will. Ein ungewolltes Leiden bei schwerer Krankheit durch »Übertherapie« in der modernen Apparatemedizin soll so verhindert werden.

Der Paragraph liegt als Referentenentwurf vor und soll im kommenden Jahr im Bundestag beschlossen werden. Daß er jedoch den Willen der Patienten höher bewertet als den zwangsweisen »Schutz des Lebens«, sorgt für heftige Kontroversen im Bundestag. Dabei verlaufen die Fronten nicht entlang der Fraktionsgrenzen, sondern quer durch die politischen Lager. So erteilt MdB Wolfgang Wodarg (SPD) »einer unkontrollierten Ausweitung der Patientenverfügung eine klare Absage.« Einig ist er sich da mit MdB Hubert Hüppe von der CDU. Dessen christsozialer Fraktionskollege Martin Mayer sieht das wiederum ganz anders: »Jeder Äußerungsfähige darf aufgrund seines Selbstbestimmungsrechts jegliche medizinische Maßnahme an sich selbst ablehnen« und zwar auch für die Zukunft.

Und so findet sich ein CSU-Abgeordneter aus dem Bundesland mit den meisten psychiatrischen Zwangsbehandlungen pro Einwohner an der Seite der BagPE wieder. Denn der neue Paragraph 1901a könnte nicht nur auf die Altersmedizin, sondern auch auf die Psychiatrie tiefgreifende Auswirkungen haben. Sein Inhalt: »Eine Patientenverfügung, in der der Betreute seinen Willen zu ärztlichen Eingriffen für den Fall seiner Einwilligungsunfähigkeit geäußert hat, gilt bei Einwilligungsunfähigkeit fort« würde schließlich auch dort gelten. Dem bisher üblichen Einsatz von Zwangsmitteln wie Fixierung, und Beruhigungsmittel würde die Grundlage entzogen. All das könnte nach der Neufassung des Parapraphen · eine Vorausverfügung vorausgesetzt · zu strafbarer Freiheitsberaubung, Nötigung und Körperverletzung werden. Eben deshalb unterstützt die BagPE das Vorhaben. »Durch die Hintertür wäre damit die ärztliche Allmacht gebrochen«, erklärte René Talbot.

Die Arbeitsgemeinschaft ist nun vom BMJ aufgerufen, sich bis 31. Januar in einer Expertenanhörung zu dem Entwurf zu äußern, anschließend wird im Bundestag über das Gesetz abgestimmt. Insider rechnen mit einer Bundestagsmehrheit für den neuen Paragraphen.

Matthias Pfeiffer