Wie die Vorsorgevollmacht das Selbstbestimmungsrecht umfassend sichern kann
Stellvertretung durch eine Vorsorgevollmacht und elterliche Rechte – ein Vergleich
von R.A. Thomas Saschenbrecker und René Talbot
In diesem Beitrag soll anhand eines Vergleiches der rechtlichen Stellvertretung eines Kindes durch seine Eltern mit der Vorsorgevollmacht erläutert werden, wie eine Vorsorgevollmacht dem Erwachsenen die Möglichkeit verschafft, vorausschauend und dauerhaft sein Selbstbestimmungsrecht gegen staatliche Eingriffe zu schützen.
Da die Selbstbestimmung regelmäßig im Zusammenhang mit psychiatrischer Diagnostik in Frage gestellt wird, liegt ein Schwerpunkt dieses Textes in der Darstellung der Kriterien, die eine Vorsorgevollmacht erfüllen muss, um einen Vollmachtgeber umfassend auch vor der Einschränkung oder Aufhebung von Grundrechten durch psychiatrische Zwangsmaßnahmen zu schützen.
In der Bundesrepublik Deutschland markiert der 18. Geburtstag den Beginn eines rechtlich eigenständigen Lebens. Man wird „volljährig“. Die Person kommt damit in den unmittelbaren Genuss eigener Vertretung und aller grund- und menschenrechtlichen Schutzrechte. Eine Verletzung dieser Rechte hat für den Verletzenden regelmäßig strafrechtliche oder zivilrechtliche Folgen und kann von dem „Volljährigen“ selbst geltend gemacht werden. Ab diesem Moment ist die Person rechtsgeschäftlich für ihr Wohl selbst verantwortlich; die subjektive Bestimmung dieses Wohles durch die Person selbst hat Vorrang vor jeglichen Beurteilungen durch Dritte. So kann sich der Volljährige auch schädigen, z.B. offensichtlich unvorteilhafte Verträge abschließen oder lebensgefährliche Berufe und Sportarten ausüben, ja sich das Leben nehmen. Die Privatautonomie wird lediglich durch gesetzliche Verbote beschränkt.
Bis zum Zeitpunkt der Volljährigkeit sind es die Eltern oder eine Institution, der das Sorgerecht übertragen wurde, die aus einer rechtliche Stellvertreterposition heraus das Wohl des Kindes bestimmen und in seinem Namen rechtlich bindende Willenserklärungen abgeben. Kindern ab dem 7. Lebensjahr wird zwar eine beschränkte Geschäftsfähigkeit zugestanden, die ihnen in begrenztem Umfang gestattet, Willenserklärungen abzugeben und Rechtsgeschäfte zu tätigen. Rechtlich wirksam werden diese Handlungen jedoch erst mit einer Zustimmung bzw. nach einer Genehmigung durch den gesetzlichen Vertreter.[1]
Die Eltern sind bis zum 18. Lebensjahr rechtlicher Vertreter bzw. gesetzlicher Vertreter des Kindes. Kein Arzt, kein Jugendamt, keine Schule kann unmittelbar eingreifen, wenn Dritten das Wohl des Kindes in Gefahr zu sein scheint und angenommen wird, dass die Eltern ihrer Fürsorgepflicht nicht in ausreichendem Maß nachkommen. Ein aufwendiges Verfahren ist notwendig, damit das dann zuständige Familiengericht unter Verwendung gutachterlicher Stellungnahmen das elterliche Sorgerecht entziehen und gegebenenfalls überhaupt auf einen neuen Sorgeberechtigten übertragen kann.
Erst dieser neue Stellvertreter des Kindes bzw. Jugendlichen kann die von der „Obrigkeit“ erwünschten Entscheidungen treffen. Dabei gilt immer das Primat des mutmaßlichen Wohles des rechtlich unselbständigen Kindes, das von Richter und Gutachter im Sinne eines „objektiven“ kindlichen Wohles beurteilt wird. Mit zunehmendem Alter fließen in dieses Urteil jedoch auch die subjektiv geäußerten Wünsche und Vorstellungen des Minderjährigen ein.
Die Entrechtung der Eltern ist beim Entzug des Sorgerechts in der Regel auf einen bestimmten Bereich beschränkt und nur als extreme Form wird die vollständige Übertragung des Sorgerechts und der Kindesentzug durch das Gericht angeordnet. Auch dies geschieht immer unter dem Primat des Wohles eines mehr als Objekt gesehenen Kindes, dem eben nicht die Subjektqualität zugestanden wird, für sich selbst verbindlich sprechen zu können, weil z.B. die Bedrohung durch misshandelnde Eltern das Kind daran hindern könnte, wahrheitsgemäße Aussagen zu machen.
Auch Erwachsene können in eine Situation geraten, in der sie ihr Selbstbestimmungsrecht nicht ausüben können und deshalb juristisch „wie Kinder“ behandelt werden, die ihre Rechte nur durch einen rechtlichen Stellvertreter wahrnehmen können. Dies kann z.B. dann der Fall sein, wenn eine Person nach einem schweren Schlaganfall oder einer Schädigung des Gehirns aufgrund eines Unfalls nicht mehr in der Lage ist, ihrem Willen kohärent Ausdruck zu verleihen. Aber auch dann, wenn ein psychiatrisches Gutachten dem Betroffenen eine psychische Erkrankung [2] und eine dadurch hervorgerufene Unfähigkeit zur freien Willensbildung unterstellt, wird regelmäßig eine Unfähigkeit zur Selbstbestimmung angenommen.
Um einen Menschen trotzdem in den Genuss rechtlichen Schutzes kommen zu lassen, wenn das Selbstbestimmungsrecht nicht unmittelbar ausgeübt werden kann, hat der Gesetzgeber auch für Erwachsene die Hilfskonstruktion der rechtlichen Stellvertretung geschaffen. Dabei bestimmt entweder das Gericht eine Person zum gesetzlichen Betreuer oder der Betroffene beauftragt über eine Vorsorgevollmacht einen oder mehrere Bevollmächtigte mit der Wahrnehmung seiner Rechte.
Wie beim Entzug des Sorgerechts, wird auch in diesen Fällen das Gericht selbst regelmäßig nicht die jeweiligen Entscheidungen treffen. Diese Aufgabe kommt dem rechtlichen Stellvertreter des Unmündigen zu. Dafür gibt es einen einfachen Grund: niemand soll unkontrolliert, sozusagen nackt, der staatlichen Gewalt gegenüberstehen. Ein bekanntes Beispiel ist die Weigerung der Eltern eines krebskranken Kindes, einer lebenserhaltenden Heilbehandlung zuzustimmen. Das Gericht kann die Behandlung und einen eventuellen Einsatz staatlicher Polizeigewalt zur Durchsetzung nicht direkt anordnen. Es kann nur das Sorgerecht (zumindest teilweise) entziehen und einen gerichtlich bestellten Vormund einsetzen, der dann staatliche Gewalt zur Durchsetzung seiner Entscheidung in Anspruch nehmen kann.
In diesem Zusammenhang ist es wichtig festzuhalten, dass die genannte Beschränkung auch für einen Auftrag für eine medizinische Diagnosestellung gilt. Ein bekanntes Beispiel hierfür ist ein HIV-Test, der ohne Einverständnis des Betroffenen vorgenommen wird. Auch wenn die erforderliche Blutabnahme selbst mit dem Einverständnis des Betroffenen bzw. seines rechtlichen Stellvertreters erfolgte, so gilt doch der Test selbst in diesem Fall als strafbare Körperverletzung. Wenn Ärzte also gegen den erklärten Wunsch der Eltern bei einem Minderjährigen einen solchen Test und eine Diagnosestellung vornehmen, so machen sie sich strafbar. Die Versagung eines Diagnoseauftrags durch die Eltern wäre dagegen keine Sorgfaltspflichtverletzung.[3]
Auch wenn gerichtlich bestellte Betreuer und Bevollmächtigte rechtlich gesehen – abgesehen von der Vorrangstellung des Bevollmächtigten – den gleichen Status haben, so unterscheiden sich doch die beiden Formen der Stellvertretung an entscheidender Stelle. Dies wird deutlich, wenn man sich die Frage stellt, in welchem Auftrag die mit der Stellvertretung beauftragte Person handelt und welche Möglichkeiten der Betroffene hat, Einfluss auf diese Person zu nehmen.
Anders als bei einem Kind, das zunächst ab Geburt bis zur Volljährigkeit gesetzlich vertreten wird und bei dem objektive Kriterien zur Beurteilung dafür herangezogen werden, was das Wohl des Kindes ausmacht, wird bei einem Volljährigen, bei dem eine Betreuung eingerichtet wird, in einer nachträglichen Betrachtungsweise durchaus feststellbar sein, was der Betroffene im Hinblick auf seine frei bestimmte Lebensgestaltung wollte und wünschte, so dass sich das betreuungsrechtliche „Wohl“ an subjektiven Kriterien, insbesondere an in unbetreuter Zeit gelebter Lebensgestaltung, orientieren muss. Bereits dann, wenn eine staatliche Fürsorgeperson für den Betreuten bestellt wurde, müsste diese Fürsorgeperson, streng genommen und nach Gesetzeslage, dieses subjektiv bestimmte Wohl für den Betroffenen konsequent durchsetzen, was sich allerdings in der Praxis als schwierig, wenn nicht unmöglich darstellt, zumal der Betreuer als gesetzlicher Vertreter Sachzwängen im Bezug auf Interessen Dritter unterliegen kann (Vermieter etc.). Obwohl der vom Gericht bestellte Betreuer also gesetzlich dazu verpflichtet ist, immer zum Wohle des Betreuten zu handeln, so liegt es letztlich doch im Ermessen des Betreuers, wie dieses Wohl zu bestimmen sei. Da insbesondere bei einer zwangsweisen Einrichtung der Betreuung der Auftraggeber nicht der Betroffene selbst ist, sondern der Staat, ist es offensichtlich, welche Interessen im Konfliktfall im Vordergrund stehen. Aber auch wenn die Betreuerbestellung mit dem Einverständnis des Betroffenen erfolgte, so ist es ihm jedoch nur unter größten Schwierigkeiten möglich, seine Mündelstellung wieder aufzuheben. Faktisch handelt es sich dabei also um eine Entmündigung, auch wenn der Begriff der „Betreuung“ lediglich fachliche Hilfe suggeriert. Die in der Praxis häufig anzutreffende Kritik an der Ausübung der „Betreuung“ durch gerichtlich bestellte Betreuer belegt diese Einschätzung.
Eine Vorsorgevollmacht eröffnet dem Vollmachtgeber dagegen prinzipiell eigenständig, ohne staatlich vermittelte Fürsorgeperson, die Möglichkeit, seine höchstpersönlichen Rechte gegen staatliche Eingriffe umfassend abzusichern und dadurch seine Selbstbestimmung und seinen Subjektstatus dauerhaft aufrechtzuerhalten. Hier ist der Auftraggeber immer der Betroffene selbst. Ihm steht somit auch die Möglichkeit offen, die Vollmacht aufzulösen und den Bevollmächtigten seiner Funktion zu entheben. Entsprechend stellte bereits im Jahre 2003 die Justizministerkonferenz der Länder in einem Beschluss fest: „Die Vorsorgevollmacht ist als einziges Rechtsinstitut geeignet, das Selbstbestimmungsrecht für den Fall einer psychischen Erkrankung, sowie einer geistigen oder seelischen Behinderung umfassend zu sichern.“
Damit eine Vorsorgevollmacht tatsächlich diese Wirkung in jeder Hinsicht entfalten kann, muss sie allerdings bestimmte Merkmale (neben Schriftform und notarieller Beglaubigung bei einer Bevollmächtigung über Immobilien) aufweisen, die im Folgenden näher erläutert werden.
Mit der Vorsorgevollmacht ersetzt der Vollmachtgeber für sich die Einrichtung einer Betreuung funktionell und institutionell und schafft Vorgaben, wonach für ihn für den „Fall der Fälle“ keine staatliche Fürsorgeperson, sondern eine von ihm bestimmte Person als Vertreter handelt, wobei dieser Vertreter dann an Wünsche und Vorgaben bezüglich der Lebensgestaltung im Innenverhältnis vertraglich gebunden werden kann.
Das Vormundschaftsgericht kann derartig geäußerte Wünsche im Nachhinein beschränken und objektiven Interessen unterordnen, wenn es sich nach § 1896 Absatz 3 BGB einem Vorsorgebevollmächtigten gegenüber immer noch als kontrollbefugt ansieht und von Amts wegen einen sogenannten „Überwachungsbetreuer“ bestellt, der dem Bevollmächtigten gegenüber weisungsbefugt und darüber hinaus sogar in der Lage wäre, die Vorsorgevollmacht zu widerrufen.
Um auch diese Möglichkeit eines staatlichen Eingriffes in eine privatautonome Zukunftsgestaltung für den Fall der „persönlichen Hilflosigkeit“ zu umgehen, wurde eine spezielle Vorsorgevollmacht (im weiteren nur abgekürzt Vo-Vo[4]) entwickelt, die zum Ziel hat, Selbstbestimmung auch dahingehend zu verwirklichen, dass psychiatrische Behandlung und psychiatrischer Zwang ausgeschlossen sind. Dazu sieht die Vo-Vo neben der Einsetzung eines oder mehrerer Bevollmächtigter zusätzlich die Bestimmung auch eines selbstgewählten Überwachungsbevollmächtigten vor. So wie die Bevollmächtigung durch eine Vorsorgevollmacht einer Betreuerbestellung vorrangig ist, so hat auch die privatautonome Bestimmung eines Überwachungsbevollmächtigten Vorrang vor der Beauftragung eines Überwachungsbetreuers durch das Gericht.
Für den durch die Vo-Vo eingesetzte Überwachungsbevollmächtigten ist ein freier Anwalt vorgesehen, der als Organ der Rechtspflege die Funktion eines ansonsten gegebenenfalls vom Vormundschaftsgericht bestimmten Überwachungsbetreuers nach § 1896, Absatz 3 BGB wahrnimmt.
Somit ist der selbstbestimmt handelnde Vollmachtgeber davor geschützt, dass letztlich doch entgegen seinem privatautonomen, geäußerten Willen staatlich bestimmte Dritte bei der Gestaltung seines Lebens bestimmend eingreifen können. Ein Versuch, den frei bestimmten Überwachungsbevollmächtigten durch staatliche bestimmte Fürsorgepersonen zu ersetzen und erteilte Vollmachten zu widerrufen, wäre dann eine fundamentale Verletzung der Rechtsstaatlichkeit, insbesondere weil der Gesetzgeber seit 1992 im FGG [5] auch einem Entmündigten gesetzlich die Möglichkeit der Bevollmächtigung eines Rechtsanwalts eingeräumt hat.
Nur noch in einem Fall ist dann ein Eingriff des Vormundschaftsgerichts vorstellbar, nämlich wenn der Vollmachtgeber selbst die Vollmacht nicht mehr will und diese widerruft, jedoch von dem Bevollmächtigten in Zusammenarbeit mit dem Überwachungsbevollmächtigten daran gehindert wird. Durch eine Herausgabe-Klage unter gleichzeitiger Erklärung des Widerrufs der Vollmacht kann der Vollmachtgeber in dieser Situation die ordentlichen Gerichte anrufen, wobei in diesem Verfahren unter Umständen die aktuelle Geschäftsfähigkeit des Vollmachtgebers ermittelt würde.
Durch die Doppelbestellung von Bevollmächtigtem einerseits und Überwachungsbevollmächtigten andererseits ist durch die Vo-Vo gewährleistet, dass immer der aktuelle Wille des Vollmachtgebers in allen höchstpersönlichen Fragen beachtet werden muss. Seit dem 1.1.1999 – und noch einmal bekräftigt durch die Betreuungsrechtsreform 2005 – hat eine Vorsorgevollmacht Vorrang vor einem staatlichen Eingriff, der zwar „Betreuung“ genannt, häufig aber schon wegen der staatlich quasi „verordneten“ Fürsorgeperson als Entmündigung empfunden wird.[6] Damit hat der Gesetzgeber vor dem Hintergrund des fundamentalen Subsidiaritätsprinzips[7] einen zentralen Zugriffsbereich des Staates in Grundrechte seiner Bürger zugunsten privatautonomer Motive aufgegeben.
Mit der Vo-Vo gelingt ein effektiver Schutz vor staatlichen Eingriffen:
Die Vo-Vo ist als sog. „bedingte Vollmacht“ unmittelbar schon dann wirksam und in Kraft, wenn psychiatrischer Zwang angedroht werden sollte. In ihrer Konsequenz gewährleistet die Vo-Vo ein „Recht auf Krankheit“ in Form einer Freiheit von psychiatrischer Diagnosestellung, denn im Innenverhältnis, das privatautonom, also ohne Einhaltung der ansonsten maßgeblichen Kriterien des Betreuungsrechtes, geregelt ist, hat der Vollmachtgeber den Bevollmächtigten dazu dann verpflichtet, eine Diagnosestellung einer psychischen Krankheit allein schon dadurch auszuschließen, dass Diagnosen gegen den Willen (und sonstige psychiatrische Zwangmaßnahmen sowieso) nicht erfolgen dürfen.
Der Bevollmächtigte muss entsprechend der vertraglichen Vereinbarung verhindern, dass der Betroffene ohne seine Zustimmung für „geisteskrank“ erklärt wird. Gerade deshalb entzieht er auch einer möglichen psychiatrischen Zwangsmaßnahme, die nur auf ein fachpsychiatrisches Gutachten gründen kann, die rechtliche Grundlage. Es kommt streng genommen dann gar nicht mehr darauf an, dass sich der Bevollmächtigte im Innenverhältnis weiter verpflichtet hat, anderen psychiatrischen Zwangsmaßnahmen entgegenzuwirken und auch nie beim Vormundschaftsgericht zu beantragen.
Privatautonomie durch die Vo-Vo bedeutet in letzter Konsequenz für den Bereich der Psychiatrie, dass psychiatrische Diagnosestellung und Psychiatrische Behandlung nur dann veranlasst und möglich ist, wenn sich der Vollmachtgeber nicht im Sinne seines „Rechts auf Krankheit“ gegen derartige Behandlungsformen entschieden hat.
Durch eine Vo-Vo wird der Bereich der medizinisch-psychiatrischen Behandlung der Privat-Autonomie in sonstigen medizinischen Bereichen gleichgesetzt, was seit jeher eben in diesen sonstigen medizinischen Bereichen im Hinblick auf die hohe Bedeutung der Grundrechte selbstverständlich ist. Dort galt und gilt, dass jede medizinische Diagnose, jedwede ärztliche Behandlung, und jeder Eingriff niemals gegen den erklärten Willen des Patienten erfolgen darf. Ohne psychiatrische Diagnose fehlt naturgemäß die Voraussetzungen für die richterliche Feststellung der Geschäftsunfähigkeit bzw. Betreuungsbedürftigkeit aufgrund einer psychischen Erkrankung und Zwang und Gewalt in der Psychiatrie haben keine legale Möglichkeit mehr, per PsychKG oder Betreuungsgesetz einem so geschützten volljährigen Bürger medizinisch Gewolltes oder aufgrund einer Diagnose als medizinisch vernünftig Erscheinendes gegen den Willen aufzuzwingen. Zwangsweises Diagnostizieren oder verabreichen irgendeiner Substanz wird dann eine genauso strafbare Körperverletzung wie ein unerwünschter HIV Test usw.
Es finden sich allgemeine Lebensratgeber, die laienhaft einem durch psychiatrische Diagnosestellung Stigmatisierten ein derartiges Selbstbestimmungsrecht absprechen und ohne hinreichend fundierte Begründung darauf verweisen, man könne mit einer Vo-Vo keine psychiatrischen Zwangsmaßnahmen verhindern, dies sei „pure Illusion“[8]. Dieser Sicht der Dinge ist insbesondere entgegenzuhalten, dass der Gesetzgeber mit Schaffung des Rechtsinstituts der Vorsorgevollmacht der Privatautonomie vollständig das Primat vor staatlich verordneter Fürsorge eingeräumt hat. Selbst ansonsten nicht disponible Rechtsgüter, wie die körperliche Unversehrtheit und die persönliche Freiheit können im Rahmen einer erteilten Vorsorgevollmacht eine Regelung erfahren. In der Rechtssprechung des Bundesverfassungsgerichtes gilt seit jeher, dass jedermann im Hinblick auf die Grundrechte die Hilfe und Fürsorge Dritter auch im Hinblick auf für notwendig erachtete oder objektiv gebotene medizinische Behandlung ablehnen darf und diese Ablehnung für etwaige Behandler bindend ist. Mit dem in der Vo-Vo erklärten Willen wird dieser allgemeingültige Grundsatz als Ausfluss aus den Freiheitsgrundrechten auch auf die Bereiche der Psychiatrie ausgedehnt. Hier lediglich eine „Illusion“ zu vermuten bedeutet in letzter Konsequenz, einem „psychisch Kranken“ gerade die Grundrechte nicht vollständig zuzuerkennen, die der Gesetzgeber im Hinblick auf deren Bedeutung mit der Vorsorgevollmacht beachtet hat.
Letztlich wird es der Entwicklung in Gesetzgebung und Rechtssprechung vorbehalten bleiben, mit welchem Fortschritt gesetzgeberische Vorgaben der Vorsorgevollmacht konsequent umgesetzt werden. Fest stehen dürfte aber schon heute, dass vom Selbstbestimmungsrecht eines Patienten auch bei einer psychiatrischen Behandlung eine Abweichung von sonstigen medizinisch-ethischen Standards weder gerechtfertigt, noch durch den Gesetzgeber und die Rechtsprechung in der Folge legitimiert wäre. Es ist der Patient selbst, der darüber bestimmen darf, ob und inwieweit über ihn Diagnosen im Sinne von Wertungen und Feststellungen getroffen werden und es ist der selbstbestimmt handelnde Patient, der über das ob und wie einer psychiatrischen Intervention allein entscheidet. Mag eine gewaltfreie Psychiatrie jenseits von Zwang manchem noch als illusorische Zukunftsvision vorkommen, wird bald festzustellen sein, dass Gesetzgebung und Rechtssprechung dem „psychisch Kranken“ Rechte zuerkennen, die an sich für einen selbstbestimmten Patienten schon heute selbstverständlich sind.
Wenn der Gesetzgeber auch für den Bereich der staatlichen Fürsorge in Form von Betreuung den funktionalen und institutionellen Ersatz durch den Vorsorgebevollmächtigten schafft, verabschiedet er sich damit auch vom unbedingten staatlichen Fürsorgegedanken für einen „seelisch Kranken“ und entzieht Zwang und Gewalt in der Psychiatrie die Legitimation, wobei die Vo-Vo sicherlich hierbei als schärfste, aber auch gefürchtetste Waffe der Psychiatrie-Gegner gegen Gewalt und Zwang in der Psychiatrie zu sehen ist.
Letztlich hat der Gesetzgeber auch den unvernünftigen Willen als Programmatik einer künftigen Lebensgestaltung klar und eindeutig zugelassen.
Dadaismus und postmoderner Existentialismus sind zu ihrem Ziel gekommen.
© Thomas Saschenbrecker und René Talbot
[1] Dies gilt bis auf einige wenige Ausnahmen: So können auch nicht voll geschäftsfähige Kinder z.B. Geschenke annehmen oder mit finanziellen Mitteln, die ihnen durch den gesetzlichen Vertreter zur freien Verfügung überlassen wurden, z.B. Einkäufe tätigen („Taschengeldparagraph“).
[2] Mit „psychischer Krankheit“ ist eine psychiatrische Diagnose einer solchen „Erkrankung“ gemeint.
[3] Die Bedeutung dieser Tatsache wird später noch deutlicher, wenn es darum geht, dass bei Personen, die über eine besondere Vorsorgevollmacht verfügen, ohne Verdacht auf eine substantielle Straftat keine Zwangsdiagnose gestellt werden darf und dadurch ein Eingriff in die Grundrechte des Betroffenen aufgrund solcher gesetzwidrig gewonnener „Erkenntnisse“ verhindert werden kann.
[4] http://www.vo-vo.de/index2.htm
[5] FGG: Gesetz zur freiwilligen Gerichtsbarkeit
[6] Voraussetzung ist lediglich, dass die Vollmacht nicht auf einen Entmündigten, Minderjährigen, Inhaftierten oder den Heimleiter des Betroffenen ausgestellt ist.
[7] Subsidaritätsprinzip: eine politische und gesellschaftliche Maxime, die Entscheidungen auf die niedrigste mögliche Ebene verlagert wissen will. Subsidiarität meint eine Zuständigkeitsvermutung der kleineren Einheit gegenüber größeren, soweit die kleinere in der Lage ist, das Problem selbstständig zu lösen. Gleichzeitig soll bei Problemen, die kleine Einheiten überfordern, die übergeordnete Ebene unterstützend (=“subsidiär“ in der urspr. lateinischen Wortbedeutung) tätig werden.
[8] Soz. Päd. Rudolf Winzen, Autor „Zwang“, Zenit Verlag, in einer Internet Darstellung, Quelle:
http://www.wegweiser-betreuung.de/vorsorge/vollmacht/index.html